Neurath an Carnap, Wien, 12. April 1930 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 12. April 1930 April 1930

Lieber Carnap!

Na ja! Also man1Hier handelt es sich wohl um einen Schreibfehler (statt „mal“), womöglich aber auch um eine bewusste Ironisierung norddeutscher Umgangssprache.YYY-K Rätselhafter Ulf-Kommentar: „ganz sicher: Nu man to“ zu. Ich wälze mich auf die Seite der Resignation, will aber zuvor alles gesagt haben, was Dir vielleicht doch einmal nützlich sein mag.

Du schickst mir den Vertragsentwurf ohne jeden Kommentar. Ich weiß also nicht, ob er Deine Zustimmung schon hat oder nicht. Wenn er Deine Zustimmung hat, tuts mir leid.

Meine Stellungnahme. Es ist, glaube ich, von Vorteil, bei einer Zeitschrift „dabei“zu sein, und heraus kann man noch immer. Wenn auch vielleicht unter irgendeiner Kompromittierung. Man versucht zunächst, aus einer Sache das Beste zu machen, was gemacht werden kann. Dann aber hängt es davon ab, ob man verantwortlicher Akteur ist oder nicht! Das bin ich hier wahrlich nicht, daher werde ich nur sanft und lind mehr Zuschauer oder Kritiker, aber jedenfalls kein Spielverderber sein. Wenn SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick und HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn die Sache schlucken, solls gelten. Der Verein Ernst MachIVerein Ernst Mach kann es wohl annehmen. Du mußt ja ohnedies im Sinne unserer Vorbesprechungen eine Vereinbarung mit uns eingehen, daß Du im Einvernehmen mit dem VereinIVerein Ernst Mach handelst und eventuell niederlegst, wenn der VereinIVerein Ernst Mach es verlangt. Das ist das einzige Druckmittel, das wir haben. Nicht sehr stark, aber immerhin vorhanden. Es ist für einen Mitherausgeber und Verleger lästig, aus einer Zeitung in eine neue schlüpfen zuaHsl. Einschub. müssen.

Meine Bedenken (Ich würde meinen, Du solltest von ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph noch Abänderung zu erreichen trachten!) sind diese: ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph hat in keiner Richtung unseren Wünschen Rechnung getragen. Das Redaktionskomitee, das die Herausgeber nach eigenem Ermessen heranziehen konnten, ist einfach weg! Reichen"-bachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph kann also auch in den Fällen, in denen er selbst meint, er sei nicht kompetent, 🕮{}einen beliebigen uns unbekannten Mann befragen, statt eines uns bekannten, den er selbst hätte vorschlagen können! Du wirst darin sehr gewissenhaft sein und sicherlich nicht in erheblichem Maße diplomatisch! Bei ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosophweiß ich, daß er von vornherein diplomatische Momente im Auge hat, das verstehe ich. Aber es kann derlei leicht Grenzen überschreiten! ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph will offenbar verschiedenen Leuten entgegenkommen, z. B. MayerPMayer, Berlin in Berlin! (Wegen Notgemeinschaft deutscher WissenschaftINotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft). Usw. Usw. Ich habe gar nicht den Eindruck, als ob ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, um eine bestimmte Anschauungsweise vorwärts zu treiben, Wesentliches unternehmen wolle! Die bloße Durchführung der ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift scheint ihm sehr wichtig zu sein. Auch dagegen habe ich nichts, wenn ich das Gefühl hätte, daß er ernsthaft an unserem Wagen zöge. Ich zweifle in vielfacher Richtung daran.

Die Situation: SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick ist es offenbar unbehaglich, HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn ist von erheblichem Mißtrauen und verstimmt, FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank hat in PragITagung für Erkenntnislehre@1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften, Prag, 15.-17.IX.1929 unguten Eindruck empfangen, ich will das nicht übertreiben, WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann spricht völlig ablehnend von ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph usw. (Du wirst mich milde daran erinnern, daß er das wohl auch von mir tut, so wie etwa MisesPMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker. Aber ich möchte bemerken, daß ich auch nicht Zeitschriften herausgeben möchte, weil ich eben starker Kritik und Besorgnis unterliege!) Ich habe außerDir noch niemanden gehört, der mit einiger Wärme von ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph spricht! Aber Deine Wärme mag genügen! Wenn ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosopheinen Gerechten gefunden hat, der sich an ihm freut, solls ihm zugute gehalten werden. Es kann aber dazu kommen, daß SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick und Du einfach die Funktion bekommtbbekommen, ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph zu decken und ihm eine höhere Autorität zu verschaffen, als er sonst hätte.

Nun zum Vertragsentwurf. Abgesehen davon, daß ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph alles weggelassen hat, was die Kooperation mit anderen Gleichgerichteten andeutet, hat er ausdrücklich den Passus hineingenommen, daß 🕮{}keine Bestimmungen über Erscheinungstermine getroffen werden. Nicht einmal innerhalb Jahresfrist können wir das Erscheinen eines uns wichtig erscheinenden Artikels erreichen! Grundsätzlich kann ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, wenn er will, einen Artikel sabotieren, indem er ihn aufs Eis legt. Manche Artikel nehmen dann einen gewissen haut goût an, der nicht immer von Vorteil ist, wie bei SchnepfencEventuell auch Schnopfen. oder Quargel!2Quargel ist ein ursprünglich aus Mähren stammender Käse mit markantem Geruch. Es gibt Artikel, die mehr einem zarten Hühnchen oder Kalbfleisch ähnlich sind.

Einigermaßen wichtig erscheint mir, daß ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph ausdrücklich das Gesamtgebiet der Philosophie als Gegenstand der ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift bezeichnet, obgleich wir, einverständlich mit ihm, von wissenschaftlicher Grundlagenforschung sprachen! Er hat nach diesem Vertrag das Recht, wirklich allem und jedem Einlaß zu geben! Es ist ihm nicht mal mehr möglich, nur danndHsl. Einschub. tolerant zu sein, wann er will, und sonst zu erwidern: Bitte, wir bringen nur Grundlagenprobleme. HeideggerPHeidegger, Martin, 1889–1976, dt. Philosoph z. B. könnte jetzt schwer abgelehnt werden. Daß er einmal schriebe wäre ja nicht weiter von Übel. Aber ich fürchte eine sehr paritätische Behandlung im Laufe der Zeit. Von der Idee, daß die Grundlagen aller Wissenschaften zur Diskussion stehen, kommt ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph immer mehr ab und immer mehr dorthin, wohin er strebt, zu seiner Professur der Naturphilosophie. Sie sei ihm gegönnt. Aber freuen tut es mich nicht, daß der Gegenstand der ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift die allgemeine Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Naturphilosophie wird, statt die Grundlagenforschung, die Erkenntnislogik, um FeiglsPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl Wendung zu gebrauchen!

Ich will darauf, daß auch sonst ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph unsere Wünsche nicht im Sinne eines freundlichen KompromisseseKompromiss behandelt hat, nicht weiter eingehen. Mir ist, wie ich wenigstens glaube, die Sachlage weiter nicht unklar! Es soll an den anderen liegen zu entscheiden. 🕮{}Wenn eine Sache sich stark von der Vollkommenheit entfernt, sind andere bessere Verwalter des Betriebes als ich. Nimm Dir aus diesem Brief, was Du als Anregung benötigst. Im übrigem aber behandle ihn in seinen Formulierungen vertraulich.

In gewissem Sinne dränge ich jetzt auch deshalb nicht mehr auf so starke Erfüllung meiner Träume, unserer Träume, wie ich hoffe, weil ich auch anderwärtigfHsl. Ersetzung von so. die Möglichkeit sehe, wenn alles gut geht, eine „reine“ einheitswissenschaftliche Sache eines Tages zu managen. Ich habe eine immerhin sehr interessante Vorbesprechung über eine Organisation zur Förderung der „Einheitswissenschaft“gehabt. Denn, daß ich zäh an dem Ziel festhalte, Schaffung einer geschlossenen Grundlagenforschung für alle Wissenschaftsgebiete, ist klar. Daß ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, wie viele andere, aus offener oder unoffener politischer Scheu diese breite Basis vermeidetgHsl. Ersetzung eines gestrichenen und unleserlichen Wortes durch vermeiden., wundert mich nicht. Du wirst das ja ohnehin nicht tun! In diesem Zusammenhang wirds Dich freuen zu hören, daß Friedrich AdlerPAdler, Friedrich, 1879–1960, öst.-schweiz. Politiker sich sehr anerkennend über Dein BuchB1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 geäußert haben soll. Übrigens auch DrieschPDriesch, Hans, 1867–1941, dt. Biologe und Philosoph, was ich sehr begreiflich, aber weniger erquicklich finde. Auch freut es mich nicht übermäßig, daß Hans HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn, der mit DrieschPDriesch, Hans, 1867–1941, dt. Biologe und Philosoph in Athen den ParapsychologenkongreßI besucht‚ seine Anschauungsweise unserer gar so verwandt findet, und mit edler Nachsicht DrieschensPDriesch, Hans, 1867–1941, dt. Biologe und Philosoph Äußerungen über das Fortleben der Seele nach dem Tode interpretiert und nicht so heftig wie wir der Entelechie sich widersetzt, deren heuristische Bedeutung er mehr lobt, als mich erquickt! Aber Du weißt, ich bin „fanatisch“.

Immerhin ist dieser Brief eine anerkennenswerte Leistung für einen Fanatiker. Ich sehe nicht ohne Besorgnis das Entstehen der ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift! Bin der Meinung, daß man sich noch an Einfluß sichern sollte, was man kann, daß es aber im ganzen besser ist drin sein als draußen. Die Hoffung auf intensive Pflege allgemeiner Grundlagenforschung und scharfes 🕮 Eintreten für unsere Generallinie habe ich im Rahmen dieser ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschriftnicht zu erwarten! Daß mich der Fall ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph unserem intensiv und scharf denkenden WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann sehr nahebringt, kannst Du Dir denken. Mit erheblichem Genuß ließ ich mir seinen nun neu bearbeiteten Prager VortragB vorlesen. Ob alles stimmt, weiß ich nicht, aber sicherlich ists eine ordentliche Sache, was ich von ReichenbachsPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph Ausführungen nicht sagen möchte.

Ph. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank schrieb mir inzwischen, offenbar unangenehm berührt, von SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Wunsch – das ist der Pfeil des MisesPMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker– mein ManuskriptBNeurath, Otto!1930@„Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie (TS)“ (ON 191/K.2), 1930 vor Abgehen nach Berlin zu lesen.1Neurath, „Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie“(ON 191/K.2).3Neurath, Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und der Nationalökonomie (ON 191/K.2); vgl. dazu unten, Brief Nr. . Wie schade, daß SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sich so beharrlich weigerte, mit mir über Marxismus zu sprechen. So empfind ich alles, was er jetzt tut, als Zensurwunsch, selbst dann, wenn er nichts weiter unternimmt.

Das heißt, einer, der die wissenschaftliche Weltauffassung als Einheitswissenschaft betrieben sehen will, wird im allgemeinen heute sowohl bei dem Flügel ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph als bei dem Flügel SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick das Empfinden haben, daß soziologische Bedingtheiten den Wunsch nach Klärung auch sozialwissenschaftlicher Begriffgebilde hindern …Das erwartet aber ein Marxist ohnedies. Es fragt sich nur, wann er daraus einen Konfliktfall macht, wann nicht. Ich bin gegen den Konflikt. Denn wir sollten möglichst einig wissenschaftliche Weltauffassung fördern. Hoffentlich hältst Du zu dieser Sache. Wir werden wenige finden, die sich dafür mitinteressieren!

Grüß MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue, grüß RohsPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde RohPRoh, Hildegard (Hilde), 1890–1945, geb. Heintze, Krankengymnastin, verh. mit Franz Roh! Sie sollen nach Wien kommen! Ich hoffe in acht Wochen in der neuen Wohnung zu sein.

Laß es Dir gut sein! Komm mit frischen Kräften zur Einheitswissenschaft zurück!

Herzlichst

Dein
Neurath

Entwurf folgt offiziell!
Grüße von OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn an Dich und MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue
hHsl. Einschub.

Brief, msl., 5 Seiten, RC 029-14-18; Briefkopf: msl. Wien, 12. April 1930.


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