\brief{Friedrich Waismann an Rudolf Carnap, 2. August 1929}{August 1929} %Obermoldau, 2.8.29 \anrede{Lieber Herr Doktor!} \haupttext{Ich stehe wieder tief in Ihrer Schuld durch mein langes Stillschweigen. Leider ging es mir ziemlich schlecht. Die ersten 14 Tage war ich in sehr guter Verfassung u. habe mit wahrer Hingebung an meinem Buch\IW{} geschrieben. Dann aber wirtschaftete ich mir einen heftigen Magen\blockade{?} ein der mich zusammen mit der großen Hitze zu jedem Gedankenaufwand völlig unfähig machte. Ich hatte eine Anzeige Wittgensteins\IN{\wittgenstein} verfaßt, die mir aber nicht gefiel, doch war ich viel zu müde, sie zu verbessern. Erst als ich hierher nach Obermoldau übersiedelte, ging es mir etwas besser, doch fühle ich mich auch jetzt noch nicht ganz wohl. Ich bitte Sie nochmals herzlichst um Verzeihung wegen der allzugroßen Verspätung; hoffentlich hat der Druck der Broschüre\IW{\wissweltauffassung} dadurch keine Verzögerung erfahren. Falls Sie übrigens im Ton oder in der Sache irgendetwas zu ändern wünschen, will ich Ihnen gerne im voraus alles zugestehen. Ich hätte Wittgenstein\IN{\wittgenstein} um Zustimmung zur Abfassung einer Inhaltsangabe gebeten. In dem Brief, den er mir als Antwort schickte, wendet er sich heftig gegen den ganzen Plan, Schlick\IN{\schlick} durch Herausgabe einer solchen Schrift zu ehren. \neueseite{} Was die Wiener Schule\II{} leistet soll sie \uline{zeigen}, nicht \uline{sagen}! Er hält es darum für viel anständiger, Schlick\IN{\schlick} durch Herausgabe einer Festschrift zu ehren, die eine Reihe von Aufsätzen aus unserem Kreis\II{\schlickzirkel} enthielte, eventuell mit einer Art Anthologie aus Mach\IN{\mach}, Boltzmann\IN{\boltzmann}, Schlick\IN{\schlick}, die zeigen sollte, was die Schule wert ist. Das Werk muß den Meister loben. Und das Lob, das \blockade{eine} Schule sich selbst spendet, stinkt wie jedes Eigenlob. Diese Sammlung wäre mit einem Vorwort zu versehen, worin Schlick\IN{\schlick} gepriesen u. sein Verdienst gewürdigt wird. Nun möchte ich Wittgenstein\IN{\wittgenstein} insofern Recht geben, als mir in dem Plan der Herausgabe der Broschüre\IW{\wissweltauffassung} zwei verschiedene Absichten enthalten zu sein scheinen: eine, Schlick\IN{\schlick} zu ehren u. ihm zu danken u. eine zweite, taktische, die sich auf das erste öffentliche Auftreten der ,,Wiener Schule``\II{} in Prag\II{\pragertagung} bezieht. Ich weiß natürlich nicht, ob das jetzt noch möglich ist, doch möchte ich fragen: Ließen sich diese beiden Absichten nicht schärfer trennen? Könnte das Schwergewicht der Broschüre\IW{\wissweltauffassung} nicht mehr auf das zweite, taktische Moment verlegt werden, während Schlick\IN{\schlick} -- vorläufig -- nur nebenbei eine Huldigung dargebracht wird? Denn ich will gestehen, daß es auch mir sympathischer wäre, Schlick\IN{\schlick} durch eine Festschrift zu ehren, die etwas zu sagen hat. Freilich ist es jetzt zu spät dazu. Doch denke ich gern an die Vorstellung, zu Schlicks\IN{\schlick} 50. Geburtstag eine solche Festschrift erscheinen zu lassen. Bis dahin hätten wir Zeit genug, etwas Gediegenes vorzubereiten. (Ich für meine Person würde z.\,B. einen Aufsatz über die \neueseite{} Grundlagen der Mathematik\IW{} zur Verfügung stellen.) Ich würde gerne hören, wie Sie hierüber denken. Meiner Mine\IN{\waismannfrau} geht es hier sehr gut. Sie hat sich sehr erholt und ist froh und zufrieden. Ihnen und der l[ieben] Frau Gramm\IN{\maue} alles Liebe!} \grussformel{Ihr\\ Friedr. Waismann} \briefanhang{Viele herzliche Grüße von meiner Frau\IN{\waismannfrau}} \ebericht{Brief, hsl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/871203}{RC 102-76-01}; Briefkopf: hsl. \original{Obermoldau, 2.\,8.\,29}.}