\brief{Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 26. Juli 1929}{Juli 1929} %[Stanford] 26. Juli 1929. \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{es hat mich sehr gefreut, von Dir zu hören: hab vielen Dank für Deinen Brief, auch für das mitgesandte Bild. Deine Nachrichten waren ja im allgemeinen recht gut. Von den erfreulichen Fortschritten der Donnerstag-Diskussionen\II{\schlickzirkel} habe ich gern vernommen. Daß Waismann\IN{\waismann} nun plötzlich doch geheiratet hat, erstaunte mich einigermaßen: natürlich war es ein freudiges Erstaunen. Möge es auch auf seine Arbeit günstig wirken! Ich fühle mich hier außerordentlich wohl. Die köstliche frische Luft und der ununterbrochene Sonnenschein, der einem hier von früh bis spät mit unfehlbarer Sicherheit geschenkt wird, erzeugen eine gehobene Stimmung, sodaß man sich verjüngt und sonntäglich fühlt. Mir ist es durchaus ferienmäßig zumute, obwohl ich ja ziemlich beschäftigt bin (acht Vorlesungen wöchentlich, die allerdings den Samstag, Sonntag und Montag frei lassen). Die freie Zeit ist meist durch Autofahrten ausgefüllt, zu denen ich von den Kollegen, die mich wirklich mit Liebenswürdigkeiten überschütten, unaufhörlich eingeladen werde. Auf diese Weise habe ich die herrlichen Wälder kennengelernt mit den berühmten Riesenbäumen, lange Strecken der Küste des Oceans, und auch das fabelhafte Yosemite-Tal, wo wir zwei Nächte in Zelten schliefen. Aber ich will nicht versuchen, irgendetwas von meinen Eindrücken von Natur und Menschen wiederzugeben: das geht nicht in Kürze, und dazu ist nach meiner Rückkehr wohl Gelegenheit. Anfang dieser Woche war ich in Los Angeles (14 Stunden von hier), wo ich zwei Vorträge\IW{} hielt. Wunderbar, aber heiß! Die Rückkehr war echt amerikanisch. Dienstag um 8 Uhr abends reiste ich von L.\,A. ab mit einem Zuge, der in Stanford gar nicht halten sollte. Auf mein gutes Zureden ließ der Kondukteur aber doch dort stoppen, und am Bahnhof -- es war ein paar Minuten vor 10 -- wartete mein Assistent, dem ich vorher telegraphiert hatte, mit seinem Auto und raste mit mir zu meinem Hörsaal, wo ich pünktlich zur gewohnten Zeit das Katheder bestieg. Meine Arbeit ist sehr angenehm. Alles Technische wird von meinem Assistenten besorgt, der während des übrigen Teiles des Jahres Philosophieprofessor am ,,College of the Pacific``\II{\collegepacific} ist. Ich habe neben meinem Hörsaal ein wunderschönes Arbeitszimmer, in dem, besonders abends, eine absolut lautlose Ruhe herrscht. Überhaupt ist der Friede, der über dem riesigen Gelände der Universität lagert, etwas wahrhaft Beruhigendes. Freilich komme ich nicht allzu oft dazu, ihn wirklich zu genießen. Mein Zimmer, das ich bewohne, ist zwar sehr einfach, liegt aber entzückend schön in einem Gebäude, das äußerlich ganz den Charakter eines europäischen Badeort-Hotels trägt, mit wundervollen Rasenflächen, Fontäne, schattigen Gängen und großer Lobby. Mit meinen Studenten bin ich recht zufrieden. Wenn auch keine schöpferischen Köpfe darunter zu sein scheinen, so verstehen sie doch wenigstens alles richtig, und das ist schon viel. Zu meiner eigenen Arbeit kam ich bisher sehr wenig, denn meine Zeit wird von den Kollegen und von den inoffiziellen Anforderungen doch sehr mit Beschlag belegt. Kürzlich hatte ich hier eine öffentliche Vorlesung\IW{} zu halten, am nächsten Montag halte ich eine in Berkeley\II{\berkeley}, und in der folgenden Woche ebenda eine zweite\IW{}. Zur Zeit ist übrigens Weyl\IN{\weyl} in Berkeley\II{\berkeley}; er trug hier vor, während ich in Los Angeles war. Eben erhielt ich von seiner Frau eine Einladung zum Lunch in Berkeley\II{\berkeley}, ich werde ihn also endlich persönlich kennenlernen und freue mich sehr darauf, mit ihm zu sprechen.~\neueseite{} Auch Koffka\IN{\koffka} - Gießen ist zur Zeit in Berkeley\II{\berkeley}; ferner der Wiener Geologe Fr. X. Schaffer\IN{\schaffer}, mit dem ich mich morgen in San Francisco treffen werde. Entsinnst Du Dich des Prof. Lenzen\IN{\lenzen} aus Berkeley\II{\berkeley}, der uns in Wien aufsuchte und über Grundlagen der Physik arbeitet? Er hat mich auch hier besucht, es ist aber wenig mit ihm anzufangen, denn er scheint nicht sehr intelligent zu sein. Ich empfange hier manche Anregungen durch das Studium der amerikanischen Literatur, mit der ich mich um meiner Hörer willen etwas beschäftigen muß. Am 28.\,August verlasse ich diesen freundlichen und gastlichen Ort und reise über Los Angeles, Grand Canon, Chicago, vielleicht auch über Yale (Psychologenkongreß) nach New York, wo ich mich voraussichtlich am 11.\,Sept. nach Neapel einschiffen werde. Meine nächste Adresse teile ich Dir noch mit. Wahrscheinlich werde ich nicht sehr lange in Italien bleiben, denn aus dem Zusammentreffen mit Plattners\IN{\lila} \IN{\plattner}, auf das ich dort gehofft hatte, scheint nichts werden zu wollen. Der Mann hat doch eine sehr starke Tendenz, künftige Begegnungen zu verhindern. Das ist für die Zukunft sehr übel. Lebe recht wohl! Für Deine Gesundheit und Arbeit wünsche ich Dir alles Gute, und ich hoffe daß wir uns in drei Monaten vergnügt wiedersehen. Mit vielen herzlichen Grüßen} \grussformel{Dein\\ Schlick} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870912}{RC 029-30-14}; Briefkopf: gedr. \original{Stanford University, Department of Philosophy \,/\, Stanford University, California}, msl. \original{26.\,Juli 1929}.}