Rudolf Carnap an Heinrich Behmann, 20. Juli 1929 Juli 1929

Lieber Herr Behmann!

Haben Sie besten Dank für die Zusendung Ihres Briefes an Leśniewski. Ich habe von L[eśniewski]PLesniewski@Le\'sniewski, Stanisław, 1886–1939, poln. Philosoph auch einen SAB bekommen, aber bisher noch nicht gelesen. Ihre Aufzeichnungen über die Antinomien habe ich soeben mit größtem Interesse gelesen. Ihre Bemerkung, die Sie mir auch früher schon mitteilten, daß die RussellschePRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Ant[inomie] überhaupt nicht auftritt, wenn man die Einführung des „abkürzenden“ Zeichens nicht vornimmt, erscheint auch mir von größter Bedeutung. Es scheint mir, daß Sie hiermit tatsächlich den Weg für eine befriedigende Lösung eröffnet haben. Die Lösung selbst würde m. E. darin bestehen, daß sie Ihre Regel (man dürfe Kurzzeichen nur dann zu einem Ausdruck zusammensetzen, wenn dieser Ausdruck rückübersetzbar, d. h. die Kurzzeichen eliminierbar seien) so formulieren, daß es eine mechanisch zu befolgende Rechenregel ist, bei deren Befolgung dann der gewünschte Erfolg (jederzeitige Eliminierbarkeit) automatisch gewährleistet wäre, ohne erst jedesmal im einzelnen Falle nachgeprüft werden zu müssen. Ich vermute, daß Sie eine solche Form leicht finden könnten.

Hiermit hätten Sie dann eine antinomienfreie Symbolik, ohne Typentheorie. Ich habe nun noch ein Bedenken. Mir scheint die Typenth[eorie] zwar durch die Ant[inomie] veranlaßt, aber auch nach deren Beseitigung noch nicht entbehrlich zu sein. Wenn ich Sie recht verstanden habe, halten Sie \(f(f)\) im allg. für sinnvoll. Ich möchte dagegen (ohne das ganz bestimmt vertreten zu können) meinen, daß, wenn irgendeine Betrachtung von bestimmten Gegenständen ausgeht, dann die Eigenschaften dieser Geg[enstände] auf einer ganz andern Ebene liegen als die Geg[enstände] selbst, und die Eig[enschaften] der Eig[enschaften] wieder auf einer neuen Ebene. Sind „\(f(a)\)“ und „\(g(a)\)“ sinnvoll, so scheint mir „\(f(g)\)“ sinnlos; z. B. „dies Ding \(a\) ist rot“, „\(a\) ist schwer“, aber sinnlos: „das Rotsein ist schwer“. Ich kann mir keinen konkreten Fall denken, in dem „\(f(a)\)“, „\(g(a)\)“ und „\(f(g)\)“ sinnvoll wären.

Trotzdem kann Ihre Art der Logik symbolisch einwandfrei sein. Möglicherweise läuft schließlich die Entscheidung zwischen einer Logik ohne Typenth[eorie] (nach Ihrer Art) und einer L[ogik] mit TT. [Typentheorie] hinaus auf eine Entscheidung durch Konvention, d. h. nach Einfachheitsgründen. Das läßt sich aber gegenwärtig noch nicht übersehen.

Ihre ausführlichen Bemerkungen zu meinen axiomat[ischen] Untersuchungen sind mir sehr wertvoll gewesen. Die endgültige Fertigstellung der Arbeit ist aber wegen anderer Dinge liegen geblieben. Ich werde nun in PragITagung für Erkenntnislehre@1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften, Prag, 15.-17.IX.1929 (Mo. 16. nachm.) darüber referieren, natürlich nur einige Hauptgedanken. Ich freue mich, Sie dort zu sehen und über Ihre und meine Probleme mit Ihnen sprechen zu können.

Mit besten Grüßen

Ihr
R. Carnap

Brief, msl., 1 Seite, RC 115-10-14 (Dsl. RC 028-07-02); Briefkopf: gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Wien XIII\,/\,5, Ameisbachzeile, msl. Wien, den 20. Juli 1929.


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