Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 30. Juni 1929 Juni 1929

Lieber Carnap‚

ich bin herzlich erfreut, daß mein Vorschlag einer Tagung in PragITagung für Erkenntnislehre@1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften, Prag, 15.-17.IX.1929 in Wien so viel Widerhall gefunden hat; es wird ja auch vor allem eine Aussprache zwischen dem WienerISchlick-Zirkel, Wiener Kreis und dem Berliner KreisIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin bedeuten, und hier freuen sich schon alle sehr darauf. Neulich hatte ich das Vergnügen, Herrn NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath bei mir begrüßen zu können, und heute war FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank hier, der mir ebenfalls von Ihnen berichtete und Ihren Programmentwurf mitbrachte. Wir haben uns hier im kleinen Kreise (mit GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph, DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph, HerzbergPHerzberg, Alexander, 1887–1944, dt.-brit. Mediziner und Philosoph) zusammengesetzt und alles besprochen, und ich möchte Ihnen jetzt darüber berichten.

1) Mit Ihrem Entwurf des ersten Tages sind wir sehr einverstanden. Dagegen hätte ich gern für den zweiten Tag ein anderes Programm, und zwar aus folgendem Grunde. Ich möchte gerade bei dieser ersten Tagung recht deutlich zum Ausdruck bringen, daß unser Interessenkreis nicht auf rein erkenntnistheoretische Probleme beschränkt ist, sondern daß auch die logischen Probleme der Mathematik mit dazugehören. Gerade hier, wo wir auf dem Physiker- und Mathematikertag sind, sollen auch die Mathematiker mit herangezogen werden, und ich möchte deshalb gern als zweiten Problemkreis die Philosophie der Mathematik wählen. Dort bietet sich als Problemkreis die Frage von Intuitionismus und Formalismus dar. Das sind doch Fragen, die Sie in Wien auch sehr interessieren. Ich habe nun schon mit der Leitung der Mathematiker Fühlung genommen, und man will uns dort auch gern entgegenkommen. Wir denken an Vorträge von FraenkelPFraenkel, Abraham, 1891–1965, dt.-israel. Mathematiker (als einfüh🕮rende Übersicht), LöwnerPLöwner, Karl, 1893–1968, tschech.-am. Mathematiker (als Intuitionist), BernaysPBernays, Paul, 1888–1977, dt.-schweiz. Mathematiker (als Formalist), und hier wäre es nun sehr schön, wenn Sie eine Darstellung des RussellschenPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Standpunktes geben würden. Für jeden Vortrag kommt etwa eine halbe bis Dreiviertelstunde in betracht.

Was das Realismusproblem angeht, so würde ich ja sehr gern mit Ihnen darüber sprechen; aber ich finde es entscheidend, daß wir hier erst mal daran denken müssen, wie unsere TagungITagung für Erkenntnislehre@1. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften, Prag, 15.-17.IX.1929 von außen aussieht. Denn schließlich soll die ganze Sache, abgesehen von allem sachlichen Zweck, doch auch zugleich eine Propaganda für unsere philosophische Sache sein; und jeder soll wissen, daß wir die mathematische Logik ebenso wie die Erkenntnistheorie in die neue Philosophie einbeziehen. Das ist doch ganz sicher auch Ihre Auffassung. Wenn Ihnen sehr viel an dem Realismus liegt, so kann man ja darüber noch mal eine Diskussion in kleinerem Kreise ansetzen; es sind ja noch viele Tage in der Woche da, und man kann doch nicht alle Fachvorträge hören. Andererseits würde ich gern dieses Thema auf den Plan der nächsten Tagung setzen. Ich möchte nämlich im nächsten Jahr schon wieder eine TagungITagung für Erkenntnislehre@2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften, Königsberg, 5.-7.IX.1930 veranstalten, und zwar dann auf dem NaturforschertagIVersammlung der Gesellschaft@91. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte, Königsberg, 7.-11.IX.1930; dort möchte ich eine Abteilung für Naturphilosophie angliedern, und von da ab regelmäßig in zweijährigem Abstand tagen. Da könnte man dann als Hauptthema das Realitätsproblem ansetzen.

2) Die Gründung Ihres Ernst-Mach-VereinsIVerein Ernst Mach ist eine sehr erfreuliche Tatsache, und ich bin natürlich sehr einverstanden, daß der Verein mit als Veranstalter hervortritt. In Berlin haben wir etwas Ähnliches schon in der Gesellschaft für empirische PhilosophieIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin. Diese, eigentlich eine Gründung der Annalen der Ph[ilosophie]IAnnalen der Philosophie, Zeitschrift, hat sich in 🕮 Berlin unter der Leitung von Dr. HerzbergPHerzberg, Alexander, 1887–1944, dt.-brit. Mediziner und Philosoph sehr erfreulich entwickelt. Man hat seit einiger Zeit auch DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph und mich in den Vorstand gezogen, und wir haben dort mit HerzbergPHerzberg, Alexander, 1887–1944, dt.-brit. Mediziner und Philosoph zusammen, der Arzt ist, die eigentliche Macht. Von dort aus haben wir auch einigen Einfluß auf die Annalen gewonnen; diese Dinge werden sich erst in einigen Monaten klären. Wir möchten nun, daß diese GesellschaftIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin gleichzeitig auch mit als Veranstalter auftritt. Das hat den Vorzug, daß von vornherein ein größerer Personenkreis hinter der Tagung steht, auch können wir in die Annalen der Ph[ilosophie]IAnnalen der Philosophie, Zeitschrift eine Ankündigung bringen.

Im Vorstand dieser GesellschaftIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin ist außer uns noch PetzoldtPPetzoldt, Joseph, 1862-1929 und der bekannte Mediziner KrausP. PetzoldtPPetzoldt, Joseph, 1862-1929 könnte man ja bei einem Verein Ernst MachIVerein Ernst Mach doch nicht umgehen; andererseits ist er schwer krank, und man zweifelt an seinem Aufkommen. KrausP tut nicht viel. Ich schreibe Ihnen dies schon im Hinblick auf die von Neurath ins Auge gefaßte Gründung einer Berliner Sektion Ihres Vereins, über welchen Plan wir noch in Prag sprechen müssen. Die hiesige Gesellschaft für empirische PhilosophieIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin könnte man dabei doch nicht übergehen, sondern müßte da in irgend einer Form einen Ausgleich suchen.

Das wichtigste bei der Veranstaltung ist ja doch, daß wir mit der offiziellen Physiker- und Mathematikertagung verbunden auftreten. Schließlich besteht unsere Zukunftsaussicht doch wesentlich darin, daß wir bei den exakten Naturforschern Anklang finden, und durch Sie gestützt werden. Wir haben hier nach stundenlangen Diskussionen von den Physikern schließlich die Einwilligung erhalten. Die Veranstaltung wollen wir also, ganz wie Sie auch vorschlugen, von einem Comité unterzeichnen lassen, das aus Ihnen, HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn, FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank, und mir besteht; der Verein Ernst MachIVerein Ernst Mach und die 🕮 Gesellschaft für empirische PhilosophieIGesellschaft für wiss. Philosophie, Berlin sollen nur im Text als Mitveranstalter genannt werden, während nur die genannten 4 Namen darunter stehen.

3) Der von Ihnen vorgeschlagene Name „Tagung für wissenschaftliche Weltauffassung“ scheint uns nicht sehr günstig zu sein. Dieser Name hat hier einen zu populären Klang; Weltauffassung klingt so ähnlich wie Weltanschauung, und man denkt hier immer gleich an die Monisten und an Leute, die aus dem zweiten Wärmesatz eine Werttheorie ableiten wollen. Andererseits geht der Name zu weit für die Tagung, die doch gerade an Naturforschung angeschlossen sein soll. Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, daß der Verein E[rnst] M[ach]IVerein Ernst Mach sich solche weltanschaulichen Ziele stellt, die wir ja alle unterschreiben; aber gerade hier, wo wir den Anschluß an die exakte Naturforschung suchen, müssen wir uns auf naturphilosophische Fragen beschränken. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank erzählte mir, daß Sie in Wien Wert darauf legen, daß unsere Methode nicht auf die Kritik der Physik und Mathematik beschränkt ist. Das ist ganz meine Auffassung, nur kann man gerade das nicht in dieser Tagung zum Ausdruck bringen; man kann ja später Tagungen anderer Art veranstalten, etwa im Anschluß an einen SoziologenkongreßI. Wir schlagen deshalb den Namen „Tagung für Naturphilosophie“ vor. Durch diesen Namen sichern wir uns auch die Möglichkeit, an den Naturforschertag Anschluß zu gewinnen. Das Wort N[atur]ph[ilosophie] hat sich ja in den letzten Jahren für diese Fragen wieder ganz allgemein eingebürgert; ich habe es vor einigen Jahren hauptsächlich auf Veranlassung von SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick auch übernommen, und heute hat es bereits in der großen Öffentlichkeit wieder einen neuen Klang. Unsere Richtung heißt ja nun einmal überall naturphilosophische Richtung. 🕮

Ich schicke Ihnen diesen Brief durch Eilboten, weil ich sehr gern von Ihnen sofort Antwort auf meine Vorschläge hätte. Wir müssen die Sache in diesen Tagen fertig machen, weil die Programme der Physiker und Mathematiker dann zum Versand kommen. Bitte antworten Sie mir doch auch durch Eilboten, dann kann mich Ihre Antwort noch erreichen, solange FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank hier ist!

Ich bin mit den besten Grüßen

Ihr
[Hans Reichenbach]

Noch eins: Sie nennen in Ihrem Vorschlag einen Vortrag „Logik und Erfahrung“B von Ihrer Seite. Steht das mit dem Wahrscheinlichkeitsproblem im Zusammenhang? Sonst würde ich vorschlagen, diese Gedanken lieber in Ihren Vortrag auf dem zweiten Tag aufzunehmen.

Ich werde übrigens auch Paul HertzPHertz, Paul, 1881–1940, dt. Physiker und Philosoph, verh. mit Helene Hertz fragen, ob er sich an der Wahrscheinlichkeitsdebatte durch ein kurzes Referat beteiligen will.

Brief, msl. Dsl., 5 Seiten, HR 014-03-17; Briefkopf: msl. 30. 6. [192]9.


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