Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 26. Juni 1929 Juni 1929

Lieber Herr Carnap!

Ich habe heute zwei Zuschriften des „Vereines Ernst Mach“IVerein Ernst Mach erhalten, die ich bestens dankend bestätige.

Die erste enthält eine Aufforderung zur Beitrittsanmeldung, die ich hiemit vollziehe; die zweite betrifft die Broschüre „Die Wiener Schule der wissenschaftlichen Weltauffassung“BVerein Ernst Mach!1929@Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien, 1929. Sie waren so freundlich, mich unter die Autoren, deren Arbeiten in der dieser BroschüreBVerein Ernst Mach!1929@Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien, 1929 angeschlossenen Bibliographie veröffentlicht werden sollen, einreihen zu wollen, doch bitte ich Sie, hievon Abstand zu nehmen und möchte dies im Folgenden kurz begründen:

Wie Sie wissen verbindet mich mit der in unserem Kreise herrschenden theoretischen Weltauffassung die radikale antimetaphysische Einstellung, die, obwohl ich sie schon in meinen ersten Schriften zum Ausdruck gebracht habe, durch die im Schlick-KreiseISchlick-Zirkel, Wiener Kreis abgehaltenen Vorträge und Diskussionen noch wesentlich in mir gefestigt wurde. 🕮

Diese Gemeinsamkeit ist für eine große Reihe methodologischer Probleme ausschlaggebend und so bin ich mir dessen voll bewußt, daß ich unserer Gemeinschaft eine Fülle wissenschaftstheoretischer Einsichten verdanke und daß insbesondere meine demnächst zum Druck gelangende Arbeit „Über das Unendliche in der Mathematik und seine Ausschaltung“BKaufmann, Felix!1930@Das Unendliche in der Mathematik und seine Ausschaltung. Eine Untersuchung über die Grundlagen der Mathematik, Leipzig/Wien, 1930 ohne Sie aller Voraussicht nach nie zustande gekommen wäre. (Wie ich auch im Vorwort hervorheben will.)

Die wesentliche Differenz aber, derentwegen ich glaube mich nicht als zur Wiener philosophischen Schule rechnen oder als „Autor verwandter Richtung“ bezeichnen zu dürfen, ist die Auffassung des „a priori“. Sie wissen, daß ich diesen Begriff durchaus nicht als Einfallspforte in die Metaphysik auffasse, aber trotzdem bleibt für mich eine Zweiheit der Erkenntnisweisen bestehen, die der Empirismus bestreitet.

Sie werden es am besten begreifen, daß ich nicht um persönlicher Bindungen willen eine mir wesentlich er🕮scheinende Divergenz der Auffassungen unterdrücken oder auch nur verwischen kann. Auf das lebhafteste aber würde ich es bedauern, wenn Sie oder Professor SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick oder irgend ein anderes Mitglied unseres Kreises diese Ablehnung als Unfreundlichkeit gegenüber der Arbeitsgemeinschaft betrachten würden, der ich mich wegen ihrer lauteren und leidenschaftlichen Sachlichkeit eng verbunden fühle.

Mit herzlichsten Grüßen bin ich

Ihr
Felix Kaufmann

P.S. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, diesen Brief in jeder Ihnen genehmen Weise zu verwenden, die Sie zur Vermeidung von Mißverständnissen für zweckdienlich halten.

FK.

Brief, msl., 3 Seiten, RC 028-25-03; Briefkopf: msl. Wien, am 26. Juni 1929.


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