Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 7. Dezember 1928 Dezember 1928

Lieber Doktor Carnap!

Mit herzlichem Dank sende ich Ihnen inliegend das Manuskript Ihrer „Untersuchungen zur Axiomatik“B1928@Untersuchungen zur allgemeinen Axiomatik, Darmstadt, 2000 sowie (RC 080-34 und RC 081-01), 1927–1930 zurück, dessen Lesen mir wegen der mustergültigen Klarheit des gedanklichen Aufbaus und der Präzision der Darstellung eine wahre Freude war. Es ist begreiflich, daß ich mit dieser besonders sorgfältigen Ausprägung und Verarbeitung der logistischen Grundthesen meine eigene Auffassung konfrontiert habe und ich möchte Ihnen in einigen kurzen Bemerkungen die Grundzüge der Kritik geben, welche ich an der Logistik, so weit sie sich die Rettung des Transfiniten zur Aufgabe setzt, zu üben habe. Gerade Ihre Darlegungen, durch welche wesentlich[e] Punkt[e] innerhalb der Grundlagenfragen vom logistischen Standpunkte aus weit schärfer gefaßt wurden als bisher, scheinen mir den Weg zu einem radikalen Finitismus zu ebnen; was ja, wie ich glaube, auch durchaus im Sinne Ihrer Bestrebungen liegt.

Die nachfolgenden Einwände richten sich daher nicht etwa gegen die logistische Methode als solche, sondern nur gegen die Lücken innerhalb des Aufbaus, durch welche das Transfinite Einlaß findet. Die Hauptwurzel der Schwierigkeiten innerhalb der einschlägigen Untersuchungen erblicke ich mit Ihnen in der unscharfen Begriffsbildung. Dieser Mangel geht nun, wie ich glaube, vor allem auf folgende Fehlauffassungen zurück:

1./ Identifizierung der Spezies mit der Gesamtheit der Individuen, die unter sie fallen (des logischen Umfangs mit dem empirischen Umfang) mit der hieraus entspringenden Zwiespältigkeit des Mengenbegriffs.

2./ Unklarheit über das logische Wesen der natürlichen Zahlen, welche durch übereinandergelagerte Unverträglichkeitsbeziehungen definierte Singularitäten sind. 🕮

Demgemäß stellen die natürlichen Zahlen das Universalschema der logischen Beziehungen dar, da ja jede beliebige logische Beziehung mit Hilfe von Gleichheit und Verschiedenheit, die sich an den Symbolen „zeigt“, sowie von Unverträglichkeit darstellen läßt. (ShefferPSheffer, Henry Maurice, 1882–1964, am. Philosoph, NieodP). Im Zusammenhange damit entspringt die Unklarheit über die Beziehung zwischen mathematischer Symbolik und mathematischer Erkenntnis, welche besonders stark bei den „Erweiterungen des Zahlengebietes“ hervortritt, wo die technisch gerechtfertigte Einführung neuer Symbole als „Schöpfung neuer Gegenstände des Denkens“ aufgefaßt wird. Auf der Kombination von 1./ und 2./ unklar wie 3./ da reinpasst und was gestrichen wurde ruht dann der Scheinaufbau der Transfinition, wobei 1./ die Grundlage für den Mächtigkeitskalkül und 2./ in Verknüpfung mit 1./ die Basis für die Bildung der Reihe der transfiniten Ordnungszahlen liefert. (Hintereinanderschaltung verschiedener Symbole).

4./ Endlich führt die – gerade für die Logistik charakteristische, obwohl mit dem Realismus RussellsPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell eigenartig kontrastierende – Verknüpfung von Logik und Sprache (statt Logik und „Welt“, deren Struktur jene beschreibt‚) zu sinnlosen d. h. ungegenständlichen „Sätzen“, die dann hinterher – teilweise – mit Hilfe der Typentheorie ausgeschaltet werden. Als treibendes psychologisches Motiv für diese Fehlauffassung erscheint mir die unbegründete Angst vor der Metaphysik, der man nur dadurch entrinnen zu können glaubt, wenn man im Bereich der „Schöpfung des Verstandes“ verweilt. Aber metaphysisch – wir können statt dessen auch sinnlos sagen – ist nur die Annahme eines der Erkenntnis entzogenen Seins, d. h. seine Herauslösung aus der Korrelation mit der Erkenntnis. Eine Behauptung ist demgemäß nur sinnvoll, insoferne Kriterien für ihre Wahrheit oder Falschheit bestehen, aber diese Kriterien sind nicht denkimmanent.

Es folgt nun die Anwendung der obigen Grundthemen auf den Inhalt Ihrer Arbeit:

Brief endet hier

Brief, msl., 2 Seiten, FK 008081-008082; Briefkopf: msl. Wien, am 7. Dezember 1928.


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