\brief{Haerlen an Rudolf Carnap, 1. November 1928}{November 1928} \anrede{Lieber Herr Dr. Carnap!} \haupttext{Für die freundliche Übersendung Ihres Manuskriptes der ,,Axiomatik``\IC{\axiomatikms} danke ich Ihnen bestens. Ich habe es mit großem Interesse durchgelesen und möchte es gerne noch einige Tage behalten. Nächste Woche werde ich jedenfalls auf einige Tage nach Wien kommen und habe den Wunsch, dann persönlich mit Ihnen sprechen zu können. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen, wenn ich bis dahin Ihr Manuskript behalte. Sie fordern mich zu Stellungnahme im Ganzen und Einzelkritik auf. Zu ersterer fühle ich mich nicht berufen, aber ich möchte doch sagen, daß mich Ihre Untersuchungen sehr freuen. M.\,E. haben Sie damit die Basis für alle weiteren Untersuchungen gelegt. Auf einige Einzelheiten möchte ich näher eingehen. Im folgenden gebe ich erst einige Schreibfehler in Formeln an, dann mache ich einige Bemerkungen zu verschiedenen Einzelheiten, dann zur Grunddisziplin und endlich zu Formalismus und Konstruktivismus. \blockade{Format! Auch inhaltlich unsicher} 1) S.\,22 Z.\,9 v. o. heißt es x'u statt \blockade{z'u} \fnAmargin{Ksl.} S.\,49 Z.\,11 v. u. `` `` $\rightarrow$ `` $\sim$ S.\,61 Z.\,6 v. o. `` `` \blockade{M} `` A S.\,80 Z.\,11 v. u. `` `` \blockade{fR und fG} statt \blockade{gR und gG} S.\,95 Z.\,1 v. u. `` `` entscheidbar statt ableitbar 2) zu S.\,13\,f. Typentheorie. Wäre hier nicht die Bemerkung angebracht, daß man weitgehend mit einer Stufentheorie auskommen [würde], also ohne Typeneinteilung? Soviel ich sehe kann vollständige Isomorphie ebenso gut in Bezug auf Stufen wie in Bezug auf Typen definiert werden (S.\,59\,ff.). zu S.\,18 Isomorphie. Die Definition der Isomorphie scheint mir etwas weit zu sein. Danach können z.\,B. eine eieindeutige, \neueseite{} \uline{inhomogene} (2=stellige) Relation und ihre Konverse isomorph sein. Das scheint mir unerwünscht.\fnAmargin{Ksl.} Ich würde verlangen, daß die Typen der beiden Relationen in einfacher Beziehung stehen. Zu verlangen, daß sie isotyp sind, geht zu weit. Aber es sollte nicht möglich sein, daß bei zwei isomorphen Relationen $P$ und $Q$ eine Stelle von $P$ von höherer Stufe als die entsprechende Stelle von $Q$, eine andere von gleicher oder niederer Stufe als die ihr entsprechende ist. -- Ich hätte vielleicht auf den Begriff isomorph überhaupt verzichtet (also nur von vollst[ändiger] Isomorphie gesprochen). zu S.\,93 Mitte: Vorhandensein von Anwendungsfällen gleichbedeutend mit Vorhandensein von Modellen. Diese Behauptung ist hypothetisch; ich möchte sie die Hypothese des Logizismus nennen: daß keine Struktur axiomatisch erfaßbar ist, die nicht schon logisch erfaßbar ist. Dazu gehören die Bemerkungen zur Grunddisziplin. S.\,46 Z.\,8 v. u. würde ich die Worte ,,nach dem Vorgange von Hilbert\IN{\hilbert}`` streichen. Hilbert\IN{\hilbert} hat die Geometrie auf ein mathematisches Modell abgebildet, nicht auf ein formales in Ihrem Sinn. Im Endeffekt ist das ja das gleiche, aber dem Sinn nach ist Hilberts\IN{\hilbert} Abbild[un]g nicht prinzipiell von denen Lobatschefskys\IN{\lobatschewski}, \blockade{Klarus}\IN{}, Beltram's\IN{} verschieden. S.\,96/7. ,,leer`` und ,,widerspruchsvoll`` gleichbedeutend. Die erste Hälfte (jedes widerspruchsvolle AS ist leer) beruht auf Widerspruchsfreiheit der Logik (Relationstheorie). Diese ist bisher noch nicht bewiesen, muß aber vorausgesetzt werden. -- Die 2. Hälfte (jedes leere AS ist widerspruchsvoll) steht im Zusammenhang mit dem zu S.\,43 gesagten und mit der Rolle, die bei Ihnen die Implikationsaussage spielt. Der Satz: $(R)(fR\rightarrow gR)$\blockade{unsicher, ob R. Gilt auch für den ganzen Abschnitt} ist zweideutig. Er heißt erstens seinem genauen Sinn nach: ,,Wenn $R$ irgendeinen bestimmten Wert $R_1$ annimmt, dann kann aus der \textkritik{impl.}\fnA{Einfügung mit Bleistift, unklar, ob von Autor oder Empfänger} Aussage $fR_1$ die Aussage $gR_1$ deduziert werden``. Zweitens soll er aber nach Definition auch heißen: ,,Aus der Aussagefunktion $fR$ kann die Aussagefunktion $gR$ gefolgert werden``. Die beiden Bedeutungen sind offenbar nur dann gleichwertig, wenn jedes leere AS widerspruchsvoll ist. S.\,77 versprechen Sie einen Abschnitt über Maximalstrukturen, der mich sehr interessieren würde. Vielleicht erzählen Sie mir in \neueseite{} Wien davon? zu §\,28\,ff.: Monomorphie und Nichtgabelbarkeit. Mit diesen Ihren Ausführungen bin ich völlig einverstanden, soweit sie nicht auf der Voraussetzung ,,leer = widerspruchsvoll`` basieren. Meine früheren Bedenken gegen den Satz, daß jedes polymorphe AS gabelbar \textkritik{sei}\fnA{Original \original{seien}}, kann ich nicht aufrechterhalten. 3) zur \uline{Grunddisziplin} und zum Entscheidungsproblem: Ich möchte Ihre Grunddisziplin Relationstheorie nennen und verstehe dann unter Logik denjenigen Teil davon, der noch den Prädikatenkalkül (v. Hilbert\IN{\hilbert}-Ackermann\IN{\ackermann}) aber nicht mehr den Funktionenkalkül enthält. Sie zeigen: wenn die Grunddisziplin entscheidbar ist, dann ist jedes monomorphe AS entscheidungsdefinit. Die Relationstheorie ist es nicht. Daraus ergibt sich das Problem: Einen entscheidbaren Kern der Relationstheorie zu finden. Wenn ein solcher Kern existiert (es könnte etwa die Logik sein, s. Hilbert\IN{\hilbert}-Ackermann\IN{\ackermann}), dann wäre er als Grunddisziplin zu wählen. Damit würden natürlich sehr viele AS von der Betrachtung ausscheiden. -- Es ergibt sich hier die Aussicht auf eine axiomatische Theorie, die in ganz anderer Richtung als Ihre geht. Von der Wahl der Grunddisziplin hängt auch ab, ob aus der Entscheidungsdefinitheit der Arithmetik Peanos\IN{\peano} diejenigen der Mathematik des Kontinuums folgt. Bei einer weniger weitgehenden Grunddisziplin, die die Definition des Dedekindschen\IN{\dedekind} Schrittes nicht gestattet, wäre das nicht der Fall. Für den Intuitionisten, und m.\,E. auch für den Finitisten Hilbert\IN{\hilbert}, ist Ihre Grunddisziplin jedenfalls viel zu weit. 4) \uline{Absolutismus}, u.s.w. \noindent{}Mit dem Konstruktivismus kann ich mich nicht so recht befreunden. Wenn man schon a-Begriffe und k-Begriffe unterscheidet, dann sollte man auch a-Negat und k-Negat auseinanderhalten. Wer a-Begriffe ablehnt, müßte auch das a-Negat ablehnen -- und damit entfällt für ihn der Satz vom ausgeschlossenen Dritten überhaupt. Denn er ist eine Aussage über eine Eigenschaft und ihr a-Negat. Für denjenigen, für den a-Negate sinnlos sind, \neueseite{} wird damit der Satz v. ausgeschl[ossenen] 3. sinnlos, sofern nicht a-Negat und k-Negat zusammenfallen. Ist übrigens sicher, daß Absolutismus und Konstruktivismus wesentlich verschieden sind? Oder ist es nicht vielleicht möglich, daß alle Definitionen, Beweise u.s.w. des Absolutismus durch entsprechende Umformung auch im Konstrukt[ivismus] sinnvoll werden? Dann würde die Beschränkung der ,,Es gibt``-Definitionen\ldots durch a-Negat wettgemacht. Daß der Konstruktivismus sehr absolutistisch ist, \blockade{erhellt} auch daraus, daß ein Begriff natürlicherweise als a-Begriff aufgefaßt wird. Wenn er nicht ausdrücklich gekennzeichnet ist, ist er a-Begriff. Damit ist natürlich nichts gegen den Konstruktivismus an sich gesagt. Mit freundlichem Gruß} \grussformel{Ihr\\ H. Härlen} \briefanhang{PS. Beim Durchlesen dieses Briefes finde ich, daß er den Eindruck, den Ihre ,,Axiomatik``\IC{\axiomatikms} auf mich gemacht hat, durchaus nicht wiedergibt. Ich möchte doch noch sagen, daß ich ihr insgesamt und in fast allen Einzelheiten zustimme. Aber ich sah meine Aufgabe nicht darin, anzugeben, worüber ich mich besonders gefreut habe, sondern zu bemerken, was mir nicht ganz klar schien.} \ebericht{Brief, hsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/824885}{RC 081-01-34}; Briefkopf: gestempelt \original{Dr. H. Härlen}, hsl. \original{\blockade{?} 1.\,11.\,28}.}