\brief[Carnap an Neurath, Zuoz/Engadin, 7.~Oktober 1928]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 7. Oktober 1928}{Oktober 1928} \anrede{Lieber Neurath!} \haupttext{Ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut, daß es Ihnen gut geht, und daß Sie dem Herrn helfen, die Lauen auszuspeien. Aber seien Sie bitte damit nicht zu ungeduldig, was mich betrifft, und behalten Sie mich noch während einer Gnadenfrist in Ihrem Munde. Die Besprechung\IW{\neurathrezaufbau} hat mich sehr interessiert.\fnE{Neurath, \glqq [Rezension von:] R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt\grqq.} Sie wollen sich also das historische Verdienst erwerben, die \glqq Wiener Schule\grqq\II{} als erster zu benamsen und zu proklamieren. Sie haben übrigens recht, daß ein Schlagwort, eine zusammenfassende Bezeichnung, auch wenn sie für sich nichts besagt, von Wichtigkeit für die Wirkung ist. Besonders bedeutungsvoll ist für mich natürlich das, was Sie an Anregung zur Ergänzung und Weiterarbeit sagen. Bei meinen Überlegungen ist mir jetzt immer klarer geworden, daß die beiden Punkte, die Sie hier nennen, und die Sie mir früher schon ausführlicher und eindringlicher vor Augen und Seele geführt haben, wirklich zu den allerwichtigsten gehören, die hier zu nennen sind; und der erste ist vielleicht der wichtigste überhaupt. Nämlich, daß eine Logik, eine Methode der Begriffsbildung aufgestellt werden muß, die die Tatsache berücksichtigt, daß wir stets Kristalle und Dreck gemischt vor uns haben, die also angibt, welche Forderungen an wissensch\editor{aftliche} Begriffe und Aussagen zu stellen sind, solange die \glqq ideale Sprache\grqq\ nicht vorliegt. Und zweitens, daß es wichtig wäre, sich mit geschichtlichen und soziologischen Problemen zu befassen. Natürlich hängt beides zusammen, da in der Soziologie naturgemäß mehr Dreck vorliegt als in der Physik. Mich an die erste Aufgabe zu machen, habe ich nun auch ernstlich vor; d.\,h. nicht gleich schreibender-, sondern natürlich zunächst nur überlegenderweise; einige Ideen in dieser Richtung schweben mir schon vor. Was das zweite betrifft, so werde ich mich zwar mehr als bisher mit den soziol\editor{ogischen} Problemen befassen, aber mehr aus menschl\editor{ichem} Interesse, also als Laie; hier jemals aus dem Laienstadium herauszukommen, kann ich nicht erwarten. Ich lese augenbl\editor{icklich} das neuübersetze Buch (Dreimasken-V\editor{erlag}\II{\dreimaskenverlag}) von dem von Ihnen auf diesem Gebiet leider nicht geschätzten Russell\IN{\russellkurz}: \glqq Die Kultur des Industrialismus\grqq.\IW{\russellkultur} Ich möchte Ihnen dringend vorschlagen, hineinzusehen.\fnEE{Tatsächlich verfasste Neurath sogar eine Rezension dieses Werkes: Neurath, \glqq Bertrand Russell, der Sozialist\grqq.} Nicht nur, weil Sie im Vorwort eine Andeutung einer Erklärung für sein skeptisches Verhalten gegenüber Rußland finden, sondern weil Sie sehen werden, daß seine ganze Einstellung durchaus die Klarheit und Entschiedenheit nicht vermissen läßt, die Sie ihm nicht zutrauen wollten. Im Gegenteil, ich finde, daß ich hier über den Zusammenhang der kulturellen und wirtschaftl\editor{ichen} Geschehnisse besser unterrichtet werde, als es, gerade für mich als Leser, irgendwo anders zu finden ist; und zwar in einem Ihrer Auffassungsweise durchaus verwandten Geiste, ohne jede Theologisiererei. Heute erhielt ich eine Karte von Ph. Frank\IN{\frankphilipp} über die \glqq Scheinprobleme\grqq.\IW{\scheinprobleme} Ich zitiere daraus, weil es Sie und besonders Ihre Frau\IN{\neuratholga} sicher interessieren wird, die ja an dem MS\IC{\scheinprobleme} so tätigen Anteil genommen hat: \glqq \ldots\ hat mir in jeder Hinsicht eine große Freude bereitet. Ich stimme Ihnen in allen Hauptpunkten in den Schlüssen, zu denen Sie kommen, vollkommen zu. Was mich dabei besonders interessiert, ist folgendes. Die von den exakten Wissenschaften herkommenden, \neueseite{}\zzz logistisch geeichten Denker, wie Sie z.\,B., kommen schließlich zu denselben Konklusionen, wie die vom logischen Standpunkt etwas rohe Philosophie des Pragmatismus von W.~James\IN{\james} u.\,a. Es bestärkt mich das in der Ansicht, die ich in den letzten Jahren immer stärker bekomme, daß sich mit der Zeit eine einheitliche \glq wissenschaftliche\grq\ Denkungsart gegenüber der \glq theologisierenden\grq\ herausbildet, zu der ebenso Realismus wie Idealismus gehören.\grqq Darf ich Ihnen vielleicht für die Besprechung\IW{\neurathrezaufbau} an der Stelle, wo sie etwas über den Inhalt sagen, folgende Formulierung vorschlagen, die mir meine Auffassung ein wenig korrekter wiederzugeben scheint. Es handelt sich aber, wie Sie sehen, nur um ein paar unwesentliche Umformulierungen, die sich möglichst nahe an Ihren Wortlaut halten: S.\,6, Mitte. \glqq \ldots\ daß die wissenschaftl\editor{iche} Beschreibung der Welt nicht qualitativ, sondern formal ist; sie enthält nicht die subjektive Beschaffenheit der Empfindungen der einzelnen Sinne, sondern das, was allen Sinnen gemeinsam ist, nämlich Bestimmungen von logischer und mathematischer Natur. Wer die Welt \ldots\grqq{} \glqq \ldots\ der Elemente, der Farben z.\,B., die Möglichkeit, sie auf Grund ihrer gegenseitigen Ähnlichkeit in ein System von bestimmter Form zu gruppieren. Das sind Begriffe, \ldots\grqq{} S.\,7, Zeile 7. \glqq \ldots,\ eine \glq unmittelbare Einfühlung\grq\ genügt nicht für die wissenschaftliche Erfassung.\grqq{} Ob und was Sie von diesem Vorschlag verwenden können, müssen Sie selbstverständlich selbst beurteilen.\fnE{Die hier vorgeschlagenen Formulierungen finden sich letztlich nicht in Neurath, \glqq [Rezension von:] R.~Carnap, \textit{Der logische Aufbau der Welt}\grqq.}} \briefanhang{\uline{Liebe Frau Neurath}! Im Gedenken an unsere Gerichtsverhandlungen über Kaila\IN{\kaila} möchte ich Ihnen doch verkünden, daß mein Vertrauen in diesen \glqq Staatsverbrecher\grqq\ durch die Entwicklung der Dinge gerechtfertigt worden ist.\fnEE{Laut TB fand von Mai bis Juli 1928 eine Reihe von Treffen mit Olga Neurath statt, bei denen Kaila gelesen und diskutiert wurde; meistens war dabei auch Heinrich Neider anwesend, fallweise auch Herbert Feigl, Marcel Natkin und Neurath.} Bitte rufen Sie einmal Waismann\IN{\waismann} an, sagen Sie ihm einen schönen Gruß von mir, und bitten Sie ihn, Ihnen die hierher\fnA{Im Original msl. ersetzt durch verstümmelten und kaum lesbaren Text, möglicherweise \original{das Rechtssystem}.}\fnEE{Im Original ist \glqq hierher\grqq\ ersetzt durch nicht eindeutig lesbaren Text, möglicherweise \glqq das Rechtssystem\grqq.} bezüglichen Sätze des Briefes von \hbox{Kaila}\IN{\kaila} an mich vorzulesen; dann aber möge er die Briefe möglichst bald an mich zurückschicken. Die Verbreitung des \glqq Aufbau\grqq\IC{\konstitutionstheorie} geschieht in fabelhaftem Tempo. Bisher sind vom Verlag und von mir 78 Ex\editor{emplare} verschenkt worden, und verkauft: 11. Aber halten Sie mich doch nicht für einen Sämann, der am Tage nach der Saat schon nach den Ähren ausschaut. Mir gings mal nicht so ganz glänzend. Inzwischen erhole ich mich hier aber gut mit Maue\IN{\maue}, Sonne und wunderbaren Bergen, die ich freilich nur von unten bekucken kann. Ende Okt. werde ich in Wien in meine neue Wohnung ziehen. Ihnen beiden und der Reidemeisterin\IN{\reidemeistermarie} herzliche Grüße,} \grussformel{Ihr\\C.}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/823579}{RC 029-16-01}; Briefkopf: msl. \original{Zuoz (Engadin), den 7.~Okt.1928\,/\,Haus Könz}.}