\brief{Rudolf Carnap an Bertrand Russell, 11. August 1928}{August 1928}

%den 11.August 1928.

\anrede{Sehr verehrter Herr \textit{Russell}!}

\haupttext{Vom Verlag\II{\weltkreis} geht Ihnen gleichzeitig mein Buch ,,Der logische Aufbau der Welt``\IC{\konstitutionstheorie} zu. Ich freue mich, Ihnen damit ein
kleines Zeichen des Dankes geben zu können für die reiche Förderung, die ich in der Entwicklung meiner philosophischen
Auffassung durch Ihre Schriften\IW{} gehabt habe. Und zwar sowohl auf logischem, wie auf erkenntnistheoretischem Gebiet. Ich
glaube hier einen Schritt auf das Ziel zugetan zu haben, das auch Ihnen vorschwebt: Klarstellung erkenntnistheoretischer
Probleme (und Beseitigung metaphysischer Probleme) mit den Hilfsmitteln, die die neue Logik, besonders durch Ihre
Arbeiten, liefert.

Ich möchte hier gleich auf zwei Punkte hinweisen, in denen ich von Ihren Auffassungen habe abweichen müssen. Diese
Differenzpunkte beruhen aber nicht auf Differenzen in der Grundeinstellung, die mir durchaus gemeinsam zu sein scheint.
Die Differenzen ergeben sich vielmehr gerade dadurch, daß ich versucht habe, diese Ihre Grundauffassung konsequenter
durchzuführen, als es bisher geschehen ist. Ich glaube hier also ,,russellischer als Russell\IN{\russell}`` zu sein.

Ich habe dem Buch\IC{\konstitutionstheorie} (S.\,1) als Motto ein Zitat von Ihnen vorangestellt, das ich als ,,Konstruktionsprinzip`` bezeichnen
möchte. Ich glaube nun, Sie haben Ihr eigenes Prinzip dadurch verletzt, daß Sie das Fremdpsychische nicht konstruiert,
sondern erschlossen haben (vgl. \textsection{}140). Ich glaube, durch die dargestellte Art der Konstitution des
Fremdpsychischen (\textsection{}57f., 140-143) das Prinzip erfüllt zu haben. Ebenso glaube ich durch die strenge
Durchführung der ,,eigenpsychischen Basis`` (,,methodischer Solipsismus``) Ihr Prinzip besser erfüllt zu haben, als es
bisher geschehen ist (vgl. \textsection{}64). Sie selbst erklären die Beibehaltung der eigenpsychischen Basis für
wünschenswert, aber für zu schwierig und kaum durchführbar. Ich glaube durch mein System die Durchführbarkeit gezeigt zu
haben, wenn ich auch zugeben muß, daß von einer befriedigenden Ausgestaltung aller Einzelheiten des Systems noch nicht
die Rede sein kann.

Der zweite Differenzpunkt betrifft die realistischen Fragestellungen (s. Literaturbemerkung bei \textsection{}176). Auch
hier glaube ich Ihre Grundeinstellung konsequenter durchgeführt zu haben, indem ich den (metaphysischen)
Wirklichkeitsbegriff ablehne. Ich glaube, daß jene Realitätsfragen und damit überhaupt der ganze philosophische
Realismusstreit, überhaupt keinen Sinn haben (\textsection{}175-178, und 2.\,Teil der Broschüre ,,Scheinprobleme``\IC{\scheinprobleme}, die
Ihnen ebenfalls zugeht).

Die beiden Punkte sind miteinander verwandt: es handelt sich beide Male um die Ablehnung einer Transzendenz, um
die Bewahrung des rein immanenten Standpunktes.

Meine im Literaturverzeichnis schon angezeigte Schrift ,,Logistik``\IC{\logistik} ist noch nicht erschienen.

Ich bitte um Entschuldigung, daß ich in deutscher Sprache schreibe, möchte Sie aber bitten, falls Sie antworten,
englisch zu schreiben.

Mit vorzüglicher Hochachtung,}

\grussformel{Ihr\\{}
\blockade{ksl.}}

\ebericht{Brief, msl. Dsl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/871068}{RC 102-68-24}; Briefkopf: gestempelt \original{Dr. Rudolf Carnap \,/\, Buchenbach (Baden)}, gestempelt \original{Dr. Rudolf Carnap \,/\, Wien XVIII, Hockegasse 77a}, msl. \original{den 11.\,August 1928}.}