Rudolf Carnap an Bertrand Russell, 11. August 1928 August 1928

Sehr verehrter Herr Russell!

Vom VerlagIWeltkreis Verlag geht Ihnen gleichzeitig mein Buch „Der logische Aufbau der Welt“B1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 zu. Ich freue mich, Ihnen damit ein kleines Zeichen des Dankes geben zu können für die reiche Förderung, die ich in der Entwicklung meiner philosophischen Auffassung durch Ihre SchriftenB gehabt habe. Und zwar sowohl auf logischem, wie auf erkenntnistheoretischem Gebiet. Ich glaube hier einen Schritt auf das Ziel zugetan zu haben, das auch Ihnen vorschwebt: Klarstellung erkenntnistheoretischer Probleme (und Beseitigung metaphysischer Probleme) mit den Hilfsmitteln, die die neue Logik, besonders durch Ihre Arbeiten, liefert.

Ich möchte hier gleich auf zwei Punkte hinweisen, in denen ich von Ihren Auffassungen habe abweichen müssen. Diese Differenzpunkte beruhen aber nicht auf Differenzen in der Grundeinstellung, die mir durchaus gemeinsam zu sein scheint. Die Differenzen ergeben sich vielmehr gerade dadurch, daß ich versucht habe, diese Ihre Grundauffassung konsequenter durchzuführen, als es bisher geschehen ist. Ich glaube hier also „russellischer als RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell“ zu sein.

Ich habe dem BuchB1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 (S. 1) als Motto ein Zitat von Ihnen vorangestellt, das ich als „Konstruktionsprinzip“ bezeichnen möchte. Ich glaube nun, Sie haben Ihr eigenes Prinzip dadurch verletzt, daß Sie das Fremdpsychische nicht konstruiert, sondern erschlossen haben (vgl. §140). Ich glaube, durch die dargestellte Art der Konstitution des Fremdpsychischen (§57f., 140-143) das Prinzip erfüllt zu haben. Ebenso glaube ich durch die strenge Durchführung der „eigenpsychischen Basis“ („methodischer Solipsismus“) Ihr Prinzip besser erfüllt zu haben, als es bisher geschehen ist (vgl. §64). Sie selbst erklären die Beibehaltung der eigenpsychischen Basis für wünschenswert, aber für zu schwierig und kaum durchführbar. Ich glaube durch mein System die Durchführbarkeit gezeigt zu haben, wenn ich auch zugeben muß, daß von einer befriedigenden Ausgestaltung aller Einzelheiten des Systems noch nicht die Rede sein kann.

Der zweite Differenzpunkt betrifft die realistischen Fragestellungen (s. Literaturbemerkung bei §176). Auch hier glaube ich Ihre Grundeinstellung konsequenter durchgeführt zu haben, indem ich den (metaphysischen) Wirklichkeitsbegriff ablehne. Ich glaube, daß jene Realitätsfragen und damit überhaupt der ganze philosophische Realismusstreit, überhaupt keinen Sinn haben (§175-178, und 2. Teil der Broschüre „Scheinprobleme“B1928@Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Berlin-Schlachtensee, 1928, die Ihnen ebenfalls zugeht).

Die beiden Punkte sind miteinander verwandt: es handelt sich beide Male um die Ablehnung einer Transzendenz, um die Bewahrung des rein immanenten Standpunktes.

Meine im Literaturverzeichnis schon angezeigte Schrift „Logistik“B1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 ist noch nicht erschienen.

Ich bitte um Entschuldigung, daß ich in deutscher Sprache schreibe, möchte Sie aber bitten, falls Sie antworten, englisch zu schreiben.

Mit vorzüglicher Hochachtung‚

Ihr
ksl.

Brief, msl. Dsl., 1 Seite, RC 102-68-24; Briefkopf: gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Buchenbach (Baden), gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Wien XVIII, Hockegasse 77a, msl. den 11. August 1928.


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