\brief{Marcel Natkin an Rudolf Carnap, 30. März 1928}{März 1928} %Wien,30.März 1928 %M.Natkin %IX. [sic] Seegasse 25 \anrede{Sehr geehrter Herr Doktor,} \haupttext{herzlichen Dank für Ihre Zeilen; ich habe dieselben nicht sogleich beantwortet, da ich die Gelegenheit ergreifen wollte, um Ihnen etwas über den Gegenstand unseres Streites mitzuteilen. Die hochtrabenden Worte[,] durch die ich unsere Meinungsdifferenzen im letzten Briefe bezeichnet habe, sind wohl ziemlich unverdient, da es sich nur um einige Diskussionen zwischen Herrn \textkritik{Waismann}\IN{\waismann} \fnA{Original im gesamten Brief: \textkritik{Weissmann}}, Feigl\IN{\feigl}, Göd[e]l\IN{\goedel} und mir (an einer nahm auch Neurath\IN{\neurath} teil) handelt. Im wesentlichen ging es um einige Behauptungen von Herrn Waismann\IN{\waismann}, die er im Anschluß an eine Kritik meiner Arbeit geäußert hat. Das Traurige an der ganzen Angelegenheit ist aber die Ergebnislosigkeit, mit der unsere Gespräche geendet haben. Herr Waismann\IN{\waismann} glaubt einen Energiesatz zu kennen, den wir ahnungslos im vergeblichen Suchen nach einem Perpetuum mobile nicht begreifen. Dem gegenüber glaube ich, daß Herr Waismann\IN{\waismann} sein Energieprinzip auf Tatsachen anwendet, die nichts mit dem erwähnten Prinzip zu tun haben, also so ungefähr ,,die Anwendung des Energieprinzips auf die natürlichen Zahlen``. Die Angelegenheit kam auch kurz in der Abendgesellschaft\II{\schlickzirkel} zur Sprache, jedoch hat sich Herr Professor Schlick\IN{\schlick} zu unseren Kontroversen noch nicht ganz klar geäußert. Es blieb uns in Ermangelung einer Verständigung nichts anderes übrig als die \neueseite{} Hoffnung, daß nach Ihrer Ankunft, Sie uns das Waismannsche\IN{\waismann} Energieprinzip klarmachen oder auch Herrn Waismann\IN{\waismann} auf die Verschwendung der Energie bei einer falschen Anwendung eines Energieprinzips aufmerksam wird. Die Leistung dieses geheimnisvollen Prinzips soll eine ganz ungeheure sein, man soll damit apriori zeigen können, daß es unmöglich ist zu sagen, was ,,empirische Realität`` ist, was das Kausalgesetz besagt, was eine einfache Theorie sein soll, es soll unmöglich sein, die Prinzipien die für den Aufbau einer Theorie notwendig sind, um aus Tatsachen eine Theorie zu konstituieren, zu erfassen. Die Urquelle für das Waismannsche\IN{\waismann} Energieprinzip bildet die Wittgenstein'sche\IN{\wittgenstein} Logik, genauer gesagt die Behauptung von Wittgenstein\IN{\wittgenstein}, daß Aussagen über Aussagen sinnlos sind. Will man sagen, was empirische Realität bedeuten soll, so muß man irgendwie auf den Begriff der Gesetzmäßigkeit rekurrieren. Wollte also jemand den erstgenannten Begriff definieren, so müßte er sagen, was er unter Gesetzmäßigkeit versteht -- dies soll aber angeblich unmöglich sein, man könne wohl fragen, ob ein bestimmtes Gesetz von der kausalen Form besteht oder nicht, man dürfe aber nicht fragen, ob es Gesetze gibt oder nicht -- das zeigt sich. Es ist doch sicher so, daß gewisse Sachverhalte sich durch eindeutige Gesetze bestimmen lassen, andere nicht. Man kann nun nach den gemeinsamen Merkmalen aller derjenigen \uline{Sachverhalte}, die sich durch \neueseite{} Gesetze von der kausalen Form beschreiben lassen, fragen. Entweder gibt es solche gemeinsame Sachverhalte oder auch nicht. Sagen was Gesetzmäßigkeit ist, heißt die gemeinsamen Eigenschaften dieser Sachverhalte aufzuzeigen. Wenn es eben keine gemeinsamen Eigenschaften gibt, so muß man alle Fälle einzeln aufzählen. Ob aber alle diese Sachverhalte ein gemeinsames Merkmal besitzen, oder nicht, das läßt sich doch keinesfalls aus irgendwelchen logischen Überlegungen ableiten. Die Auffindung eines Gesetzes besteht ja immer in der Auffindung einer bestimmten Eigenschaft, die sonst heterogenen Sachverhalten gemeinsam ist. Man könnte also höchstens gegen die Form, in der ich die gemeinsame Eigenschaft aller dieser Sachverhalte ausdrücke, protestieren. Ich sage z.\,B., wenn sich bestimmte Sachverhalte auf eine bestimmte Weise beschreiben lassen, dann sind das kausale Sachverhalte. Nun behauptet Waismann\IN{\waismann}, ob es eine einfache Beschreibung gibt oder nicht, das sei eine sinnlose Frage. Die Beschreibung selbst sei ja nicht etwas Tatsächliches, sondern etwas Logisches. Die Sprache selbst gehört nicht zum Inhalt der wissenschaftlichen Aussagen, sondern nur zur wissenschaftlichen Handlung, (das eben gesagte halte ich nicht für ein Argument, vielmehr behauptet es das, was in Frage steht). Hiezu möchte ich nur noch folgendes bemerken: obwohl ich es nicht einmal zugeben würde, daß um zu sagen, wann Gesetzmäßigkeit besteht, es nötig sei \neueseite{} Aussagen über Aussagen zu machen (Ich glaube es ist hinreichend zu sagen, ob eine Relation oder Kurve vorhanden ist oder nicht) will ich doch das Argument gleich in dieser Form betrachten; denn wenn es in einem bestimmten Sinne möglich ist, Aussagen über Aussagen zu machen, dann ist es doch auch möglich, Aussagen über das Bestehen einer Relation oder einer Kurve zu machen. Würde übrigens dies letzte nicht möglich sein, so könnte man z.\,B. auch nicht das Hamiltonsche Prinzip formulieren. Was soll das bedeuten, daß man keine Aussagen über Aussagen machen kann? Offenbar kann das nur den Sinn haben, daß man nicht den Inhalt einer Aussage ausdrücken kann, (denn das tut sie \blockade{eben} selbst) weiter daß man nicht sagen kann, was Wahrheit ist. Ganz abgesehen jedoch von der Frage was Aussagen \uline{eigentlich} sind, kann man für gewisse methodische Zwecke die Aussagen als Zeichen betrachten, d.\,h. man legt sich auf ein bestimmtes Zeichensystem fest und sucht mittels dieses Zeichensystems verschieden Sachverhalte verschieden zu beschreiben. In dem einmal gewählten Zeichensystem wird sich dann zeigen, daß manche Sachverhalte durch dieses einmal gewählte Zeichensystem sich einfach beschreiben lassen, andere hingegen nur äußerst kompliziert. Das Argument, daß wenn wir dann ein anderes Zeichensystem wählen, wir zu keinen übereinstimmenden Ergebnissen mit dem ersten Zeichensystem gelangen könnten, macht weiter nichts aus. Wir werden eben das Zeichensystem so wählen, wie es für unsere Zwecke der Definition der Einfachheit \neueseite{} angemessen sein wird. Wählt jemand eine andere Sprache, ein anderes Zeichensystem, so kann es ja auch unter Umständen passieren, daß wir dann die Definition der Einfachheit anders fassen werden. Es scheint mir also durchwegs möglich zu sein, über den Umweg der Sprache Sachverhalte zu charakterisieren. Die ganze Physik ist ja nicht eine Sammlung von Elementaraussagen sondern eine Charakteristik von Sachverhalten über irgendeinen Umweg. Wählt man einmal die starren Körper, so kann man fragen, welche Geometrie tatsächlich gilt; wählt man eine Sprache, so kann man fragen, welche Tatsachen sich in dieser Sprache einfach und welche nur kompliziert beschreiben lassen. Nun meint Waismann\IN{\waismann}, daß die so definierte Einfachheit nicht die tatsächliche ist, ebenso wie die so definierte empirische Realität nicht das ausdrückt, was man tatsächlich damit meint. Es ist hier aber das Gleiche als ob jemand nach der tatsächlich geltenden Geometrie fragen würde, unabhängig von der Definition der starren Körper. Es ist vielleicht richtig, wenn Wittgenstein\IN{\wittgenstein} behauptet, daß der Nominalismus als letzter erkenntnistheoretischer Standpunkt unhaltbar ist; als Methode für naturphilosophische Überlegungen scheint er mir einen großen heuristischen Wert zu besitzen. Zum Schlusse sehe ich also nicht ein, weswegen eine Theorie der Theorien unmöglich sein soll. Es handelt sich doch einzig und allein darum[,] die Auswahlprinzipien für die Tatsachen so aufzustellen, daß wenn man nach diesen Auswahlprinzipien die Tatsachen aussucht, eine Theorie herauskommt. Es kann vielleicht aus irgendwelchen praktischen Gründen \neueseite{} unmöglich sein, auf diese Art und Weise zu Theorien zu gelangen, und in Anbetracht dessen wird es vielleicht immer der Intuition vorbehalten bleiben, Theorien aufzustellen, trotzdem spricht doch diese Tatsache nicht gegen die Möglichkeit einer richtigen Theorie der Theorien. Daß man plötzlich erklärt, etwas gehöre zur wissenschaftlichen Handlung und nicht zum wissenschaftlichen Inhalt, scheint mir eine ganz willkürliche Zweiteilung zu sein, wie ich sie ja auch auf S.\,128 d[es] Ms.\IW{} kritisiert habe. Man könnte mit gleichem Recht behaupten, daß die Entstehung der Begriffe bloß zu wissenschaftlichen Handlung zuzurechnen seien und sich nicht rational fassen läßt. Ich hoffe verehrter Herr Doktor, daß Sie die Ausführlichkeit dieses Briefes entschuldigen werden, und es mir nicht übelnehmen, daß ich wieder einmal Ihre kostbare Zeit für meine Privatsorgen in Anspruch nehme. Ich wünsche Ihnen auch weiterhin gute Erholung und verbleibe mit besten Grüßen} \grussformel{Ihr ergebener\\ Marcel Natkin} \ebericht{Brief, msl., 6 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870436}{RC 029-06-04}; Briefkopf: msl. \original{M. Natkin \,/\, X. Seegasse 25 \,/\, Wien, 30.\,März 1928}.}