diesmal muß ich Dich wirklich ganz besonders um Entschuldigung bitten, daß ich auf Deinen Brief so spät antworte. Die letzten Wochen in Wien waren so aufgeregt, daß ich überhaupt zu nichts kam. Und von hier hätte ich Dir längst geschrieben, wenn nur die Sonne geschienen hätte. Stattdessen regnete es, und das hatte erstens zur Folge, daß man wegen der Kühle nicht lange zum Schreiben stillsitzen konnte sondern sich Bewegung machen mußte, und zweitens war durch das Wetter auch meine Stimmung ein bißchen regnerisch, und ich versuche grundsätzlich, Briefe nur in rosiger Laune zu schreiben. Die Rosen blühen übrigens hier, und die Landschaft ist unbeschreiblich, wundervoll – wenn nur der dumme Scirocco nicht wäre!
Über den Titel Deiner BroschüreB nachzudenken hatte ich in Wien keine Muße. Hier habe ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, vermag aber keinen Titel zu finden, der mir besser schiene als die von Dir vorgeschlagenen. Am meisten sagt mir Dein 4. Vorschlag zu (Haben Realismus, Idealismus etc. einen Sinn? mit dem dazugehörigen Untertitel). Etwas kräftiger wäre wohl: „Jenseits (oder Diesseits?) von R[ealismus] I[dealismus] u[nd] Th[eorie]Ergänzung unsicher“, doch glaube ich ähnliche Überschriften schon gelesen zu haben (z. B. N[icolai] HartmannPHartmann, Nicolai, 1882–1950, dt. Philosoph in den KantstudienIKant-Studien, ZeitschriftB). Wie Du siehst, fällt mir diesmal nichts Gescheites ein.
Bist Du noch in Davos oder schon in Tirol? Du schreibst nichts über Deine Gesundheit; ich betrachte das aber als gutes Zeichen und nehme an, daß Du vollständig wiederhergestellt bist. Ich freue mich sehr darauf, Dich im April wiederzusehen. Ich selbst muß nämlich auch schon Mitte April zurück sein, weil [wir] um die Zeit Logierbesuch erwarten.
Unsere Karte von der Rax wirst Du bekommen haben. Mit dem Skilaufen war’s in diesem Winter nicht viel. Ich hatte eine Zeitlang die Absicht zum Arlberg zu fahren, mußte aber aus mehreren Gründen davon absehen und bin nun froh, hier zu sein, wo ich auch etwas zu arbeiten gedenke. 🕮
Mit MajaPRosenberg, Maja, 1904–1969, russ.-israel. Pädagogin, Schülerin von Moritz Schlick, verh. mit Moro Bernstein war es in der letzten Zeit wieder schrecklich, aber es ist zu umständlich schriftlich zu erzählen. Sie reiste BernsteinsPBernstein, Moro, Lehrer, verh. mit Maja Rosenberg wegen plötzlich nach England und blieb auf der Rückreise einige Zeit in Deutschland. Aus München telefonierte sie mehrmals, und als sie hörte, daß ich abzureisen beabsichtigte, kam sie Hals über Kopf nach Wien – ich konnte sie aber nur noch ganz kurze Zeit im Caféhaus sprechen. Sie wollte dann von Bukarest, wo sie in palestinensischen Angelegenheiten zu tun hat, durchaus hierher nach Ragusa kommen. Ich habe ihr so dringend abgeschrieben wie ich nur konnte, und hoffe, daß sie vernünftig sein wird. SieaLoch muß dann nach Amerika, um dort für das Kinderheim zu werben. Von da fährt sie im Herbst direkt nach Palestina zurück und hat dann vorläufig keine Aussicht mehr, noch einmal nach Wien zu kommen.
Vor kurzem hat BrouwerPBrouwer, Luitzen E. J., 1881–1966, niederl. Mathematiker zwei Vorträge in WienB gehalten. Sie waren aber weniger interessant als das, was WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph, der bei beiden zuhörte, uns nachher im Caféhaus darüber sagte.
Die Davoser HochschulkurseIDavoser Hochschulkurse haben ja nun doch stattgefunden. Hast Du etwas davon gesehen und vielleicht mit interessanten Leuten gesprochen? – Vor etwa 6 Wochen bekam ich eine Einladung nach Kalifornien, wo ich im Sommer 29 an der Stanford UniversityIStanford University, Stanford CA Vorlesungen halten soll. Ich werde der Lockung vermutlich folgen, obgleich ich fühle, daß es mich geistig eher hemmen als fördern wird.
Wenn Du mir hierher noch schreiben möchtest, so nehme ich an, daß mich eine Nachricht hier bis zum 8. April bestimmt noch erreichen würde. Ich hoffe herzlich, daß Du wohl und munter bist und bleibe mit den allerbesten Wünschen und Grüßen