Rudolf Carnap an Abraham Fraenkel, 26. März 1928 März 1928

Lieber Herr Fraenkel!

Ich hoffe, Sie haben trotz Ihres allzu kurzen Erholungsurlaubs die Reisen nach Berlin und Kiel gut überstanden, wenn dieser Brief Sie erreicht. Ich schreibe Ihnen sofort, um einen Punkt zu klären, über den Sie Zweifel äußerten, und der in Kürze geklärt werden kann. Ich kann freilich hier nur kurze Andeutungen geben, die Rechtfertigung insbesondere der Definitionen meiner Termini, und den Rückbezug auf die Logik muß ich mir hier schenken.

Es handelt sich um meine These, daß Ihr 2. u. 3. Vollst.-Begriff gleichbedeutend (umfangsgleich) sind. Die Teilthese, daß monomorphe AS nicht gabelbar sind, ist problematischer. Ich glaube auch sie beweisen zu können (dabei ist der Gedankengang analog dem des spez. Beweises für die Nichtgabelbarkeit des PeanoschenPPeano, Giuseppe, 1858–1932, ital. Mathematiker AS am GoldbachPGoldbach, Christian von, 1690-1764, dt.-russ. Mathematiker-Satz, den ich Ihnen im vorigen Jahr einmal schickte). Jetzt aber möchte ich nur auf die 2. Teilthese eingehen: „Jedes polymorphe AS ist gabelbar“; das ist leicht zu beweisen. Ich wunderte mich, wie ich Ihnen schon sagte, daß Sie (und ebenso BaerPBaer, Reinhold, 1902–1979, dt.-am Mathematiker, verh. mit Marianne Baer) auch diese These noch bezweifeln. Ich möchte Ihnen jetzt in Kürze den Beweis geben. Ausführlicher kann die Sache nur im Zusammenhang der ganzen Frage besprochen werden.

Ich setze die Terminologie meines Symposion-AufsatzesB1927@„Eigentliche und uneigentliche Begriffe“, Symposion 1, 1927, 355–374 voraus (einige Def. gebe ich sogleich noch). Ferner setze ich voraus, daß wir jedes Axiom und jedes AS als eine Aussagefunktion ansehen; die sog. Grundbegriffe sind die Variablen (Symp. 370 f.). Darüber waren wir ja wohl einig. Für jede Axiomatik müssen wir ferner eine Logik voraussetzen, da wir ja sonst nichts deduzieren könnten. Ich setzte (was hier nicht bes. wichtig ist) die RussellschePRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Logik voraus, mit den Modifikationen, die ich Ihnen früher schon angedeutet habe (bes. ohne Reduz.Axiom und ohne verzweigte Typentheorie).

Ich exemplifiziere hier der Einfachheit halber immer an einem AS mit nur éinem Grundbegriff, und zwar eine Grundrelation. Das ist keine sehr enge Exemplifizierung; die AS der Mengenlehre, der nat[ürlichen] Zahlen (PeanoPPeano, Giuseppe, 1858–1932, ital. Mathematiker), der reellen Zahlen, der Geom. (metr., u. projektive), der Topologie lassen sich in diese Form bringen. Die Grundrelation bez[eichne] ich mit \(R\), das AS als Aussagefunktion mit \(fR\); Axiome über denselben Grundbegriff mit \(gR\), \(hR\), usw. „\(P Is R\)“ heißt die Relation \(P\) ist isomorph zu \(R\).

Wie ich Ihnen schon andeutete, müssen wir unterscheiden zwischen formalen und nichtf[ormalen] (inhaltlichen) Axiomen. Ein inh[altliches] Ax[iom] legt das AS (teilweise) auf irgendeinen Bereich fest (indem es z. B. bestimmt, daß eine bestimmte log[ische] Konstante, etwa eine bestimmte (RussellschePRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell) Kardinalzahl, zu den Elementen gehören soll). Wir definieren: ein Axiom (oder ein AS; wie überhaupt alle Eigensch[aften] ebenso auf einzelne Axiome, wie auf ganze AS anwendbar sind) heißt „formal“, wenn es eine strukturelle Eigensch[aft] aussagt (meine LogistikB1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 § 23 d), d. h. eine Eig[enschaft], die invariant ist gegenüber isomorphen Abbildungen. In Zeichen: \(hR\) ist formal heißt: in folgenden Absätzen kommt bei Formeln rechtsbündig eine Nummerierung vor; konnte ich nicht rekonstruieren, wird im Text aber verwendet als Orientierung. Die Abstände innerhalb der Formeln stimmen oft nicht, weil Dollar-Umgebung macht das eigenständig.

\((P‚Q)\): \(hP\). \(p\)\(Is\)\(Q\). \(\supset \) .\(hQ\)

In diesem Sinne sind alle in der Math[ematik] gebräuchlichen Axiome und Lehrsätze der Arith[metik], Analysis und Geom[etrie] formal.

Die Frage der Gabelbarkeit bezieht sich nur auf die Gab[elung] durch ein formales Axiom. Denn inbezug auf ein nichtf[ormales] ist die Frage trivial: jedes (auch monomorphe) AS (mit Ausnahme des Extremfalles des nicht nur teilweise, sondern vollständig inhaltlich festgelegten AS, das man wohl kaum mehr „AS“ nennen möchte) ist ja gabelbar an einem nichtformalen Axiom. Wir def[inieren]: ein AS heißt „gabelbar“, wenn es zwei miteinander nicht verträgliche formale Axiome (im einfachsten Falle: ein f[ormales] A[xiom] und sein Negat) gibt, von denen jedes mit dem AS verträglich ist. (Die Axiome sollen dabei natürlich keinen neuen Grundbegriff enthalten, da sonst die Gab[elung] ja wieder trivial ist.)

2 Axiome heißen „verträglich“, wenn ihre 🕮 Konjunktion nicht widerspruchsvol ist. Eine Aussagefunktion heißt „widerspruchsvoll“, wenn sie eine kontradiktorische Aussagefunktion als Folgerung hat. \(fR\) hat \(hR\) als „Folgerung“, wenn gilt \((R): fR. \supset .hR\) Die Konjunktion einer Aussagef[unktion] und ihres Negates heißt eine „kontradiktorische“ Aussagef[olge]. Also: ist \(gR\) formal, so ist \(fR\) an \(gR\) gabelbar, wenn \(fR\) mit \(gR\) und mit \(\sim gR\) (Negat) verträglich ist.

„Modell“ bedeutet (zum Unterschied von „Realisation“): Anwendungsfall, der aus log[ischen] Konstanten konstruiert ist (z. B. aus RussellschenPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Kardinalzahlen). Ein AS heißt „leer“, wenn es kein Modell hat. (Den Beweis, daß jedes leere AS widerspruchsvoll ist, habe ich Ihnen neulich auf dem Zettel mitgegeben; ich bitte um Ihre Bemerkung dazu). \(fR\) ist monomorph, wenn gilt \((P‚Q): fP.fQ.\supset P Is Q\)

\(fR\) ist polymorph, wenn (2) nicht gilt; das läßt sich dahin umformen: es gibt zwei nicht isomorphe Modelle (leer kann \(fR\) nicht sein; denn jedes leer AS ist monomorph nach der Def. (2)).

Die Verträglichkeit zweier Axiome ist bewiesen, wenn ihre Konjunktion ein Modell hat.

These. Ist ein AS polymorph, so ist es gabelbar.

Beweis. \(fR\) sei polymorph. Dann gibt es nach (3) 2 Modelle, etwa \(R_1\) und \(R_2\), die nicht isomorph sind: Formatierung!

\(fR_1\)

\(fR_2\)

\(\sim (R_1 Is R_2)\)

(\(R_1\) und \(R_2\) sind log[ische] Konstanten). Wir betrachten nun 2 neue Axiome über denselben Grundbegriff \(R\), die wir mit \(gR\) und \(hR\) bezeichnen:

\(gR\): „\(R\) ist isomorph zu \(R_1\)“ (in Zeichen: \(R Is R_1\))

\(hR\): “ “ \(R_2\)

\(gR\) ist mit \(fR\) verträglich nach (4), da \(R_1\) ein Modell ihrer Konj. ist. Ebenso \(hR\) mit \(fR\), da \(R_2\) ein Modell ist.

\(gR4\) und \(hR\) sind unverträglich; denn wenn\(R\) mit \(R_1\) is. ist und andrerseits mit \(R_2\), so müßte \(R_1\) und \(R_2\) isom[orph] sein, entgegen der Voraussetzung (7); genauer Beweis:

nach Def.: \((R) :gR.hR.\supset .R Is R_1. R Is R_2\)

aus (8) und (7): \((R) :gR.hR.\supset .R Is R_1.\sim (R Is R_2)\)

Nun muß noch bewiesen werden, daß \(gR\) und \(hR\) formale Axiome sind. Wegen der Symmetrie und Transitivität der Isomorphie gilt:

\((P‚Q) :P Is R_1. P Is Q.\supset .Q IS R_1\)

also: \((P‚Q) :gP. P Is Q.\supset .gQ\)

d. h. (nach (1)): \(gR\) ist formal; der Beweis für \(hR\) ist analog.

Ergebnis: \(fR\) ist verträglich mit \(gR\) und mit \(hR\); \(gR\) und \(hR\) sin miteinander nicht verträglich, beide sind formal; als \(fR\) ist gabelbar.

Abstand

Ich möchte hier auf Grund der oben gegebenen Definitionen noch einmal den Beweis formulieren, daß \(fR\), wenn es leer ist, eine kontradiktorische Folgerung hat, also widerspruchsvoll ist.

\(fR\) ist leer: \(\sim (?R).fR\)

oder auch: \((R).\sim fR\)

hieraus: \((R).fR.\supset . \sim fR\)

denn (14) bedeutet nach der Def. der Implikation:

\((R): \sim fR.v. \sim fr\) (v heißt „oder“)

und dies ist gleichbedeutend mit (13).

Tautologisch gilt: \((R) : fR. \supset .fR\)

aus (14) und (16): \((R): fR. \supset . fR. \sim fR\)

was zu bew[eisen] war. Dies bedeutet: ist die Leerheit eines AS beweisbar, so ist auch ein Widerspruch aus ihm konstruierbar.

Abstand

Diese Überlegungen gelten selbstverständlich nicht für den intuitionistischen Standpunkt; hier wird immer der Satz v[om] ausgeschl[ossenen] Dritten vorausgesetzt.

Ich habe auch angefangen, die Frage des Zusammenhanges zw. Beschr.-Axiom, Vollst[ändigkeits]-Ax[iom] und Monomorphie zu untersuchen. Die Behandlung der AS als Aussagefunktionen erleichtert die Unters[uchung] sehr. (Hierbei ist nicht, wie bei der üblichen Methode, jedes AS ein Gebiet für sich, das mit den andern schwer in Beziehung zu bringen ist, sondern es sind alles Untersuchungen innerhalb der einen Logik.aHsl.)

Brief, msl. Dsl., 2 SeitenBrief hört auf, geht er weiter? Es ist ein Dsl. also könnte er auch vollständig sein., RC 081-01-26; Briefkopf: gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Wien XVIII, Hockegasse 77a, msl. Seefeld (Tirol), den 26. März 1928  /  Rantnerhof 138.


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