\brief{Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 14. Februar 1928}{Februar 1928} %14/II 28 \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Ich danke Ihnen herzlich für Ihren Brief vom 3. ds. samt Blg. Vor allem freut es mich sehr zu hören, daß Sie mit Ihrem Gesundheitszustand zufrieden sind, sodaß wir Sie im Sommersemester vollständig kuriert hier erwarten dürfen. Auch daß Ihre beiden Bücher\IC{\logistik} \IC{\konstitutionstheorie} jetzt im Erscheinen sind freut mich sehr. Die \uline{Konstitutionstheorie}\IC{\konstitutionstheorie} will ich möglichst ausführlich für die Kant-Studien\II{\kantstudien} besprechen; ich möchte Ihnen auch nochmals nahelegen Ihre Ausführungen über die ,,\uline{geistigen Gegenstände}`` zu überprüfen und empfehle Ihnen wärmstens zu diesem Behuf die aus dem Nachlaß von Fr[anz] \uline{Brentano}\IN{\brentanofranz} (im Anhang zum 2.\,Bd. der Psychologie v. empir[ischen] Standp[punkt]. Ich glaube Phil[osophische] Bibl[iothek] Bd.\,102) veröffentlichten Aufsätze\IW{} zu lesen, insbesondere die 3 letzten in diesem Bande. Für Ihre mir sehr wertvollen Anmerkungen zu den Ihnen übersandten Auszügen aus \uline{meiner mathematischen Arbeit} bin ich Ihnen aufrichtig dankbar. Ich muß gleich bemerken, daß es sich hiebei um ganz kurze und naturgemäß sehr unvollständige Extrakte zur Erleichterung der Diskussion im Schlick Kreis\II{\schlickzirkel} handelte und daß ich überdies unter dem Eindruck dieser Diskussion im Laufe des Dezember eine neuerliche vollständige Überarbeitung durchgeführt habe. Aber auch diese werde ich nicht veröffentlichen, sondern im nächsten Monat noch eine weitere Umarbeitung beginnen. Ich hätte Ihnen die letzte Fassung sehr gerne geschickt, aber gerade weil ich weiß, mit welcher Gewissenhaftigkeit Sie die Ihnen übersandten Arbeiten prüfen, durfte ich Sie, der mit wichtigen eigenen Arbeiten reichlich -- angesichts Ihrer Schonungsbedürftigkeit wahrscheinlich überreich -- beschäftigt ist, nicht weiter in Anspruch nehmen. Aber ich freue mich schon sehr auf eine eingehende Diskussion nach Ihrer Rückkehr hierher. Noch kurz einige Bemerkungen zu Ihren Einwänden. Ad I. Def. Des Zahlbegriffes: Zählen heißt: bestimmte Gegenstände zählen, aber diese \uline{Bestimmtheit} erzeugt keinen Gegenstand \blockade{höherer} Ordnung neben den zu zählenden Dingen. Der Begriff der Menge erweckt die Illusion als wäre neben der Zusammenfassung durch den Zählprozeß schon eine ursprüngliche Verknüpfung vorhanden und diese Illusion beherrscht die Vorstellung vom aktual \neueseite{} Unendlichen. Der Begriff der Klasse (der spezif[ischen] Allgemeinheit, Gattung, Art) ist m.\,E. \uline{strengstens zu scheiden} von der numerisch[en] Allgemeinheit, welche im \uline{Mengenbegriff} in Frage steht (Vgl. Husserl\IN{\husserl} 2. logische Untersuchung). Ich habe das in der Arbeit selbst eingehend ausgeführt und auch betont, daß das Hilbert'sche\IN{\hilbert} Komprehensionsaxiom , welches (m.\,E. mit Recht) einen der Hauptzielpunkte von Brouwers\IN{\brouwer} Angriffen darstellt auf dieser Vermengung basiert. Ich halte es für einen wesentlichen Mangel der Russell'schen\IN{\russell} Symbolik, daß sie dieser grundsätzlichen Unterscheidung nicht Rechnung trägt. Hiedurch wird einsichtigermaßen auch der Begriff der Aussagenfunktion doppeldeutig. Ad \uline{Zeitbegriff im Zählprozeß:} Ist ebenfalls in meiner Arbeit genau erörtert. Ich bemühe mich dort darzutun, daß der Zahlbegriff in \sout{ähnlicher} analoger Weise ein logisches \blockade{Abstrat} aus dem zeitlichen Zählprozeß darstellt -- wie die \unll{} logischen Sätze vom Widerspruch u. vom ausgeschlossenen Dritten. Abstrate aus \unll{} Ergebenheiten sind. z.\,B. ist der Satz vom Widerspruch die Logifizierung d.\,h. der ,,Unverträglichkeitsextrakt`` der Sätze. 1.) An demselben Gegenstande -- d.\,h. an demselben Ort zur selben Zeit -- können nicht verschiedene unter dieselbe oberste Gattung (etwa Farbe) fallende niedere Gattung (blau, gelb) auftreten. 2.) Derselbe Gegenstand kann nicht zur selben Zeit an verschiedenen Orten sein. -- Analog ist durch die sukzessive Synthesis im Zählprozeß eine Superposition von Unverträglichkeiten gegeben. Das später Gezählte setzt das früher Gezählte voraus. (Kein Fünftes ohne Viertes). In der arithmetischen Axiomatik tritt nun nicht mehr das \blockade{ontische} Substrat (die Zeit) sondern bloß das logische Abstrat, die Stufenfolge der Unverträglichkeiten auf. -- Die arithmetische Axiomatik hat also im Zählprozeß ihr ,,Modell`` in der inneren Erfahrung. Ich definiere nun die Zahlen implizit in folgender Weise: Zahl heißt ein Gegenstand, dessen Vorliegen unverträglich ist mit dem Nichtvorliegen anderer Gegenstände auf Grund der folgenden Axiome 1.) Es gibt eine Zahl mit deren Vorliegen das Nichtvorliegen keiner Zahl unverträglich ist 2.) Es gibt zu jeder Zahl $2n$ eine Zahl $2m$, mit deren Nichtvorliegen das Vorliegen von $2n$ unverträglich ist, wobei das Vorliegen von $2n$ außerdem nur mit dem Nichtvorliegen einer solchen von $2n$ und $2m$ verschiedenen Zahl unverträglich ist, mit deren Nichtvorliegen auch 2m unverträglich ist. 3.) Es gibt zu jeder Zahl $2n$ höchstens eine Zahl $2m$ \unll{} \unll{} 2m und 2n die Beziehung 2\blockade{?} gibt. \neueseite{} Damit ist die ,,Erreichbarkeit`` logifiziert, denn erreichbar ist dasjenige, dessen Vorliegen \uline{auf Grund der Axiome} mit dem Nichtvorliegen von anderem unverträglich ist. Es bedarf dann nicht noch eines speziellen Prinzips d[er] vollst[ändigen] Induktion. \uline{Ad. Def. der Irrationalzahl} Die von Ihnen angegebene richtige Formulierung ist in meiner Arbeit enthalten \uline{Verknüpfung der Brüche mit dem Raum} wird in d[er] Arbeit ausführlich begründet \uline{Wahlordnung}: Ihre Deutung d[er] Ordinalzahl als Funktion deckt sich im Wesentlichen mit der von mir bevorzugten als ,,Bildungsgesetz``, die ich in meiner Arbeit\IW{} durchgeführt habe. Ich danke Ihnen nochmals herzlich für Ihre Bemühungen und auch für die Erlaubnis Ihre Bibliothek zu benutzen. Viele Grüße von meiner Frau\IN{\kaufmannfrau} und} \grussformel{Ihrem\\ Felix Kaufmmann} \ebericht{Brief, hsl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870201}{RC 028-25-12}; Briefkopf: hsl. \original{14./II\,28}.}