\brief{Rudolf Carnap an Felix Kaufmann, 3. Februar 1928}{Februar 1928} %R.Carnap. %Davos-Dorf, den 3.Febr.1928. %Pension Waldheim \anrede{Lieber Herr Kaufmann!} \haupttext{Haben Sie besten Dank für Ihren Brief v. 1.\,XII. und für die Übersendung der \uline{Abhandlung über das Transfinite mit der Beilage über die Entscheidbarkeit}\IW{}. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihnen erst jetzt antworte. Ich wollte es erst tun, nachdem ich Ihre Arbeiten gründlich durchgelesen habe. Und dazu bin ich erst jetzt gekommen. Meine Familie\IN{\elisabeth} \IN{\annemarie} \IN{\hanneliese} \IN{\johannes} \IN{\eline} war längere Zeit hier. Und dann war ich hauptsächlich damit beschäftigt, die Konstitutionstheorie\IC{\konstitutionstheorie} druckfertig zu machen; ich habe sie gekürzt und an manchen Stellen noch umgearbeitet. Jetzt endlich ist das MS\IC{\konstitutionstheorie} in der Druckerei. Das Buch\IC{\konstitutionstheorie} erscheint unter dem Titel: ,,Der logische \uline{Aufbau der Welt}; Versuch einer Konstitutionstheorie der Begriffe`` im Weltkreis-Verlag\II{\weltkreis}, Berlin (dem Verlag des ,,Symposion``\II{\symposion}, Dr. W. Benary\IN{\benary}). Mein ,,\uline{Abriß der Logistik}, mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen``\IC{\logistik} ist auch in MS fertig, sodaß ich hoffe, daß er auch bald erscheinen wird. Das MS\IC{\logistik} ist jetzt in Händen von Schlick\IN{\schlick} bezw. Waismann\IN{\waismann}. Selbstverständlich bin ich damit einverstanden, daß Sie das Buch\IW{} von Geiger\IN{\geiger} haben. Sie können überhaupt meine Bücherei gern nach Belieben benutzen; nur möchte ich Sie bitten, mitgenommene Bücher auf einen Zettel zu notieren, den Sie auf oder in den Schreibtisch legen mögen, damit ich nach Rückkehr über den Verbleib der Bücher Bescheid weiß. Gesundheitlich geht es mir befriedigend, sodaß ich im S.S. bestimmt wieder in Wien zu lesen gedenke. Nun zu Ihren Arbeiten\IW{} \IW{}, die ich hiermit wieder zurückschicke. Bei beiden bin ich mit den Grundgedanken sehr einverstanden, halte aber die Durchführung nicht an allen Stellen für befriedigend. Über das \uline{Transfinite}\IW{}. Ihre Auffassung, daß dieses nur als Abkürzung zu dienen hat für Aussagen über das Finite, teile ich durchaus. Doch halte ich die Durchführung dieses Postulates für recht schwierig; ich sehe, auch nach Durchlesen Ihrer Darlegungen, die verschiedene wertvolle Gedanken enthalten, doch noch nicht, wie die Eliminierung des Transfiniten, unter Rettung alles Rettenswerten in Mengenlehre und Analysis, genau durchgeführt werden kann. Einige Einzelbemerkungen: \uline{S.\,3,} Behauptung 2) ,,Zur Def. d[er]s[elben] Zahlbegr[iffe] bedarf es nicht des Begr[iffes] der Menge``. Das scheint mir durch Ihre Darlegungen nicht erwiesen. Im Gegenteil: Sie nehmen den Ausdruck ,,\uline{die} vorliegenden`` (Elemente oder Dinge) als sinnvoll an; das aber besagt doch: für jedes Element soll als feststehend geltend, ob es eins der ,,vorliegenden`` ist oder nicht. Das aber ist ja der Begriff der Menge (Klasse). S.\,3 unten: eine ,,Art`` $A$ scheint mir nichts anderes \neueseite{} als eine Menge. Und wenn wir ,,die wohlunterschiedenen Arten $A,B,C$`` haben, so scheint mir das nichts anderes als die Menge der Mengen $A,B,C$. Ausgeschaltet ist also zwar das Wort ,,Menge`` bezw. ,,Menge von Mengen``, aber nur ersetzt durch einen gleich\sout{artigen}bedeutenden Ausdruck. Mir ist nicht ganz klar geworden, welche Konsequenzen die Ausschaltung des Mengenbegriffs für Ihre Theorie hat. M.\,a.\,W.: was ist damit gewonnen, wenn man die Wörter ,,Menge`` (oder ,,Klasse``) vermeidet? Nur die \uline{Wörter} sind vermeidbar, die Klassen selbst nicht; denn nach der ,,Extensionalitäts``-Auffassung (die ich in der Konst[itutions] Th[eorie] näher begründet, aber freilich noch nicht bewiesen habe, und zu der auch Russell\IN{\russell} nach der 2.\,Aufl. der Princ[ipia] Math[ematica]\IW{\principiamathematica}, neigt, ohne sie jedoch bestimmt anzunehmen) sind Klasse und Aussagenfunktion dasselbe; die Klassenzeichen sind nur Zeichen besonderer Verwendungsart für die ,,entsprechenden`` Aussagenfunktionen. Da man nun Aussagenfunktionen auf keinen Fall vermeiden kann noch will, so scheint es mir eine bloße Frage der Symbolik, ob man für sie auch Klassenzeichen verwenden will oder nicht. (Ich weiß allerdings nicht, ob Sie der Extens.\blockade{Ergänzung?}-These zustimmen; andernfalls liegt die Sache allerdings für Sie anders). \uline{S.\,4 oben.} Die Behauptungen: 1) daß die arithm[emtische] Sätze analyt[isch] aus der Def. des Zählenprozesses folgen, 2) daß diese Def. den Zeitbegriff enthalte, haben erst einen deutlichen Sinn, wenn Sie Ihre Axiome und Ihre Grundbegriffe genau angeben. (Das scheint mir überhaupt das wichtigste Erfordernis für die Abhandlung). (der 1. Behauptung möchte ich beipflichten, die 2. einstweilen bezweifeln). Nehmen Sie etwa die Peanoschen\IN{\peano} Axiome oder die Beilage (Entscheidb[arkeit]) S.\,2 aufgeführten, so trifft die 1. Beh[auptung] zu, die zweite nicht, wie mir scheint. \uline{S.\,6.} Ihre finite Interpretation einiger Äquivalenzsätze scheint mir richtig und interessant. Ich glaube übrigens, daß man sagen kann, daß die entsprechenden Sätze in den Princ[ipia] Math[ematica]\IW{\principiamathematica} (hier, wo es sich um Abzählbares handelt; bei den höheren Mächtigkeiten wird die Sache problematisch) auch nur diesen finiten Sinn haben. Denn es ist ja eins der Hauptprinzipien bei Russell\IN{\russell}, daß jeder Klassensatz umgeformt werden kann in einen Satz ohne Klassenzeichen; wird diese Umformung im Russellschen\IN{\russell} Sinne vorgenommen, so heißt es dann ähnlich wie bei Ihnen: ,,es gibt eine Zuordnungsregel, die jeder (konkret anzugehenden) geraden Zahl eine natürl[iche] Zahl zuordnet und umgekehrt``. \uline{S.\,7.} Ihre Deutung der Wohlordnung mit Hilfe des Begriffs der ,,unbestimmten Anzahl`` scheint mir ganz besonders bemerkenswert. Vielleicht ist dies wirklich der Weg, auf dem das Unendliche ausgeschaltet werden kann. Es wäre zu erwägen, ob sich der Begr[iff] ,,unbest[immte] Anz[ahl]`` als ,,Variable`` fassen läßt, da dieser Begriff ja ohnehin in der Logik erforderlich ist; eine bestimmte Ordnungszahl wäre dann als Funktion zu deuten. \uline{S.\,8.} Ihre Verknüpfung der natürl[ichen] Zahlen mit der Zeit, der Brüche mit dem Raum erscheint mir noch problematisch. \neueseite{} \uline{S.10.} Ihre Def. des (rationalen) Grenzwertes einer rationalen Folge ist zutreffend. \uline{S.\,10.} Ihre Def. der Irrat[ional]zahl, vielmehr: der Aussagen über Irr[ational]Z[ahlen] durch Aussagen über Approx.\blockade{Ergänzung?} von rationalen Intervallen, erscheint mir gut und interessant. Bedingung II ist (dem Gedanken nach) richtig, sollte aber genauer so formuliert werden: ,,Es gibt zu einer beliebigen Rat[ional]Z[ahl] $K$ stets eine Rat[ional]Z[ahl] $R$, die größer ist als jede Zahl der Folge, und für die es eine Zahl $z_{i}$ der Folge gibt, sodaß $R-K\lt{} z_{i} \lt{}R$``. \uline{Die Beilage über Entscheidbarkeit.}\IW{} \uline{S.\,2.} Mitte. Ihre Erledigung des Prinz[ips] der vollst[ändigen] Induktion scheint mir in dieser Form nicht einwandfrei. Ihr Ausdruck: ,,nennt man nun diese Zahlen 1, 1f, 1ff,\ldots{}`` ist unstatthaft. \uline{Wenn} man die Zahlen so bezeichnen kann, dann allerdings ist jede Zahl durch den Zählprozeß erreichbar. Aber das kann man eben nicht aus den genannten Axiomen beweisen, sondern dazu braucht man noch das Ind[uktions]Prinz[ip]. Denn die genannten 3 Axiome können auch durch eine überabzählbare Zahlmenge erfüllt werden. Und wenn Sie sich auf den Standpunkt stellen, daß Überabzählbares keinen Sinn hat, so hilft auch das nichts: es gibt abzählbare Zahlmengen, die die 3 Axiome erfüllen, aber nicht das Ind[uktions]Prinz[ip], sodaß nicht jede Zahl in endlich vielen Schritten von der ersten aus erreichbar ist. Beispiel: die Zahlen \nicefrac{1}{$2^n$} (wo $n$ die Werte der nat[ürlichen] Zahlen annimmt), der Größe nach geordnet, also:\newline $-1/2, -1/4, -1/8, \ldots{} 1/8, 1/4 , 1/2 $. Die Axiome sind erfüllt: zu jeder dieser ,,Zahlen`` kann man einen und nur einen Vorgänger namhaft machen, und es gibt eine erste. Dies Beispiel zeigt, daß doch noch die beiden Axiome erforderlich sind: es gibt keine letzte Zahl; und: jede Zahl ist von der ersten aus erreichbar. \uline{S.\,2.} letzter Satz stimmt zwar, wenn Sie ,,bestimmte Eigensch[aften]`` definieren wie Abh. S.\,12 Mitte (die Formulierung dort ist übrigens nicht ganz klar; ich vermute, daß gemeint ist: ,,\ldots{}, in deren Def. keine scheinbare Variable vorkommt``); es fehlt aber der Beweis für den Fall andrer Eigenschaften, und das ist gerade der wichtigere Fall (z.\,B. im Fermatschen\IN{\fermat} Problem, wie mir scheint). \uline{S.\,3.} Ihre ,,rationale Übersetzung`` des Satzes vom Grenzwert und der Beweis dazu scheinen mir sehr gut und bemerkenswert. Daß ich mit dem Grundgedanken auch der Beilage übereinstimme: daß nämlich die arithmet[ischen] Fragen entscheidbar seien, wissen Sie ja. Meine kritischen Bemerkungen sollen also nur dazu dienen, zu helfen, Ihre interessanten Gedankengänge in einwandfreie Fassung zu bringen. An manchen Stellen wird das, glaube ich, leicht möglich sein; an andern Stellen dagegen bin ich nicht sicher, ob die Durchführung in der von Ihnen beabsichtigten Weise möglich ist. Ich schicke Ihnen hiermit die Abhandlungen mit bestem Dank für die empfangenen Anregungen zurück, und verbleibe mit herzlichen Grüßen auch an Ihre Frau Gemahlin\IN{\kaufmannfrau}} \grussformel{Ihr\\ R.C.} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870203}{RC 028-25-13}: Briefkopf: msl. \original{Davos-Dorf, den 3.\,Febr.\,1987 \,/\, Pension Waldheim}.}