\brief{Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, 10. Jänner 1928}{Jänner 1928} %Davos-Dorf, den 10. Jan.1928. %Chalet Wieser \anrede{Lieber Flitner!} \haupttext{Hab vielen Dank für das Buch\IW{}, das vor einigen Tagen hergekommen ist, von Lina Kiechle\IN{\kiechlelina} heraufgeschickt. Ich habe den größeren Teil Deines Berichtes schon gelesen, mit großer Anteilnahme. Es hat doch einen eigenartigen Reiz und hilft auch zur Selbstklärung, wenn man Eigenerlebtes historisch dargestellt findet. Besonders in der Charakterisierung der Bewegung vor dem Kriege findet man manche treffenden Züge, die man selbst nicht leicht so deutlich zum Bewußtsein bringen kann. Die Aufgabe war ja sehr schwierig; einen Tatsachenbericht zu geben auf einem Gebiete, wo so viele wesentliche Züge imponderabel sind; die Gefahr ist groß, das Bild subjektiv zu verfärben. Die Aufgabe scheint mir sehr gut gelöst. Auch, daß Du in manchen Punkten Dein Urteil merklich zurückgestellt hast oder in der Schärfe gemäßigt hast, entspricht wohl dem in diesem Rahmen Geforderten. Falls der Bericht nicht übersetzt wird, scheint mir die Sprache aber für ausländische Leser reichlich schwierig. Ich denke mir, Du fürchtetest, bei einfacherer Sprache würde die Darstellung in Gefahr sein, ins Triviale zu geraten. Also ich bin jetzt hier oben, für das ganze Semester. Schlecht gehts mir aber nicht. Doch riet der Arzt, lieber jetzt die Sache gründlich auszukurieren, als mit halber Besserung nach Wien zu gehn. Zum Glück kann ich hier arbeiten, sodaß für mich keine Gefahr besteht, von der Zauberberg-Atmosphäre betäubt und verschlungen zu werden. Ich habe jetzt die (vor 2 J[ahren] geschriebene) Konstitutionstheorie\IC{\konstitutionstheorie} überarbeitet und gekürzt (auf 20 Bogen). Nächste Woche wird sie hoffentlich ganz fertig sein und an den Verleger zum Druck gehen. Jetzt ist Elisabeth\IN{\elisabeth} mit den drei jüngsten\IN{\johannes} \IN{\hanneliese} \IN{\eline} für einige Wochen, über Weihnachten, hier. Täglich sind wir in Schnee und schönster Sonne. Hanneliese\IN{\hanneliese} und Brüderle\IN{\johannes} laufen eifrig Ski, ich instruiere wie eine Glucke vom Trockenen aus. Zuweilen darf ich auch ein wenig, aber nicht richtig hinaus. Töchterle\IN{\annemarie} ist den Winter über bei Agnes\IN{\agnes}. Die von Dir und Nohl\IN{\rjnohl} empfohlene Schule Salem\II{} nahm vor Ostern keine Schüler mehr auf; außerdem ist ja bei ihrem Alter die Familie doch noch sehr gut. T[öchterle]\IN{\annemarie} hängt sehr an Agnes\IN{\agnes} und besonders an ihrer Ältesten, der Ursula\IN{\kaufmannursula}. So fügt sie sich dort gut in den Schwesternkreis ein. Die beiden \uline{Aufsätze} (üb[er] erkth. Analyse\IC{}, u. Realismusstreit\IC{}) schick bitte an \uline{Merten}\IN{\merten}! (mit dem Begleitblatt). Wenn Du etwas Zeit hast, schreib doch vorher noch in ein paar Zeilen Deine Stellung dazu. Von Roh\IN{\rohfranz} hörte ich, daß Du nicht einverstanden seist. Vielleicht kannst Du kurz in Telegr[amm]stil Deine Gegengründe skizzieren? Vergiß auch nicht die Wahl eines der nummerierten Standpunkte; und wenn Du keine Zeit sonst hast, tu nur dieses. Elisabeth\IN{\elisabeth} hat mal in Mexico vor einem Jahr einen Mann getroffen, der Dich kannte, sie hat den Namen vergessen. Hat der Euch die Sachen \neueseite{} mitgebracht? Ein Säckchen Kaffee und ein Päckchen für Anne\IN{\flitneranne}? Er war auf einer Studienreise, E[lisabeth]\IN{\elisabeth} glaubt, als Nationalökonom. Dir, Lisi\IN{\rjlisi} und den Kindern\IN{\flitnerandreas} \IN{\flitneranne} viele herzliche Grüße, auch von Elisabeth,} \grussformel{Dein\\ Rudi} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, WF; Briefkopf: msl. \original{Davos-Dorf, den 10.\,Jan. 1928 \,/\, Chalet Wieser}.}