Heinrich Behmann an Rudolf Carnap, 29. Dezember 1927 Dezember 1927

Lieber Herr Carnap!

Zunächst endlich nach langer Zeit meinen besten Dank für die freundliche Übersendung Ihres AbrissesB1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929. Ich war um den 7. Dez. herum in Kiel auf Einladung von ScholzPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph und habe dort zwei VorträgeB gehalten, einen im philosophischen SeminarI über die RussellschePRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Typentheorie und den anderen in der Ortsgruppe der KantgesellschaftIKantgesellschaft in Kiel über die Frage, ob die mathematischen Urteile analytisch oder synthetisch sind, und zwar ihre Formulierung und Beantwortung vom Standpunkt der symbolischen Logik. Das erste Experiment ist zwar nicht völlig geglückt, da ich bei den Hörern nur recht wenig voraussetzen durfte, um so mehr aber das zweite. Es zeigt sich oft, daß Probleme, die nicht von der symbolischen Logik selbst oder um ihretwillen gestellt sind und auf den ersten Blick kaum einen Zusammenhang mit ihr zu haben scheinen, gerade besonders geeignet sind, um lebhaftes Interesse an ihr zu erwecken und in sie einzuführen. Natürlich hat die Vorbereitung allerhand Arbeit gemacht, sodaß ich zu einer gründlichen Durchsicht Ihres AbrissesB1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 noch nicht gekommen bin. Ich habe ihn ScholzPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph mitgenommen; er interessiert sich sehr dafür und findet ihn im ganzen sehr gut gelungen, möchte ihn aber jetzt in den Weihnachtsferien gern noch etwas genauer durchsehen.

Was zunächst die Bezeichnungsfrageaksl. betrifft, auf die Sie auf Ihrer Karte vom 16. zurückkommen, so halte ich diese namentlich aus gewissen taktischen Gründen, nämlich für die Erzielung einer einigermaßen zutreffenden Beurteilung und Würdigung durch die vorerst noch außen Stehenden, für sehr wichtig. Es sollte m. E. zum Ausdruck kommen, 🕮 daß es sich weder um ein seinem Gegenstande nach neues Gebiet noch um eine Abart oder ein Teilgebiet eines schon bekannten handelt, sondern um die Logik– oder, wenn man lieber will, die formale Logik– in ihrer modernen Form handelt. Auch die Mathematik hat ja erst im Laufe ihrer Entwicklung eine Symbolik bekommen, ebenso z. B. die Chemie, aber niemand hat dies damals zum Anlaß genommen, sie in „Mathematistik“, „Chemistik“ oder etwas derartiges umzutaufen. Eine solche Umtaufe würde m. E. geradezu das Zugeständnis bedeuten, daß die unsymbolische Behandlungsweise neben der symbolischen als gleich zum mindesten gleichberechtigt weiter bestehen und anerkannt werden soll. Auch die Physiker nehmen ja keinen Anstand, irgendeine neue Theorie, wie z. B. die von HeisenbergPHeisenberg, Werner, 1901–1976, dt. Physiker oder von SchrödingerPSchrödinger, Erwin, 1887–1961, öst. Physiker, wenn sie auch in krassestem Gegensatz zu allem Gewohnten steht, gleichwohl als „Physik“ zu bezeichnen, worin eben zum Ausdruck kommt, daß diese nicht neben die bisherige, sondern an ihre Stelle zu treten beansprucht. Die symbolische Logik befindet sich ja noch durchaus in einer Kampfesstellung, einem Ringen um Anerkennung, und sollte sich daher besonders hüten, irgendwie mit ihren berechtigten Ansprüchen zurückzuhalten. Andere, sogar ziemlich minderwertige Theorien, ich nenne nur die Philosophie des Als-Ob, gewinnen stark an Boden, weil sie anspruchsvoll auftreten und dadurch dem Außenstehenden einen starken Anreiz geben, sich mit ihr als einer nicht mehr zu übersehenden Gegenwartserscheinung näher zu befassen. Wenn in unserem Fall überhaupt eine Wortunterscheidung statthaben soll, so darf es sich nach meiner Ansicht nur um eine vorläufige handeln, die nur bis zur grundsätzlichen Anerkennung der Notwendigkeit der symbolischen Methode Anwendung findet. (Vgl. M[athematik] u. L[ogik]BBehmann, Heinrich!1927@Mathematik und Logik, Leipzig, 1927 S. 3)aHsl.

Sie schreiben, daß Sie das Eigenschaftswort „logistisch“ für sehr zweckmäßig halten. Ich muß meinerseits sagen, daß mir dessen 🕮 Sinn nicht recht klar ist. Soll man sagen, daß \(A\) aus \(B\) „logistisch“ folgt, oder auch, daß der Satz \(A\) oder sein Beweis „logistisch“ dargestellt ist? Ich wäre durchaus dafür, auf das gute alte Wort „logisch“ nicht zu verzichten und, wie ich es durchweg tue, einerseits von „logischem“ Folgen und andererseits von „symbolischer“ Darstellung zu sprechen.

Für die Beurteilung Ihres AbrissesB1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 ist die entscheidende Frage wohl diese, ob eine enge Anlehnung an die PMBRussell, Bertrand, und Alfred North Whitehead!1910@Principia Mathematica, Cambridge UK, 1910–1913, 2. Aufl., 1925–1927 oder aber eine in sich selbst geschlossene und im Sinne Ihrer eigenen Ansichten angemessene und zweckmäßige Darstellung grundsätzlich zu erstreben ist. Sowohl für das eine als auch für das andere sprechen natürlich sehr gewichtige Gründe, und ich weiß daher nicht recht, ob ich Ihnen raten soll, z. B. auf solche unglückliche Bastardworte, wie „logische Summe“, „logisches Produkt“, „Aussagefunktion“ ganz zu verzichten, ebenso z. B. auf die verfehlte, auch von ScholzPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph durchaus abgelehnte RussellschePRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Definition der Identität, da Sie eben allem Anschein nach der Darstellung doch gern ihr RussellschesPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Gepräge bewahren möchten, und man ohne einen solchen festen Gesichtspunkt ja leicht ins Uferlose käme. Eine Angelegenheit für sich ist natürlich die Symbolik, die ich in den elementareren Teilen der PMBRussell, Bertrand, und Alfred North Whitehead!1910@Principia Mathematica, Cambridge UK, 1910–1913, 2. Aufl., 1925–1927 für immerhin erträglich, späterhin aber doch für ziemlich unangenehm halte. Ich erinnere an Bildungen wie {symbol} oder etwa an „die Summe zweier Quadratzahlen“, wofür PeanoPPeano, Giuseppe, 1858–1932, ital. Mathematiker einfach \(eN^2\)e ist tiefgestellt vor N? schreibt. Ohne weiteres ist diese Bezeichnung natürlich nicht zu übernehmen, weil ja \(N^2\) eine Klasse von Klassen ist, die hingeschriebene Verbindung also bereits anderweitig erklärt sein würde. Wohl aber könnte man \(\uline{N}^2+\uline{N}^2\) schreiben (bzw. mit Benutzung des Zeichens NC), wobei eben der Wertverlauf für alle möglichen Einsetzungen von Elementen der unterstrichenen Klassen, d. h. die Klasse aller die🕮ser Werte, gemeint ist. Entsprechend würde ich statt {symbol} einfach \(\uline{\lambda }\mid \uline{\mu }\)Unterstreichungen eigentlich auf gleicher Höhe bzw. \(\uline{\lambda }\mid \uline{\mu }\)unter Formel eckige Klammer, aber Befehl underbrack ist in unserer Latex-Version keine Option schreiben, usw. Ich glaube, daß man hier und auch in vielen anderen Punkten zu wesentlich übersichtlicheren und zugleich sinnfälligeren Bezeichnungen gelangen könnte.

Weiter betrachte ich es geradezu als eine Lebensfrage für die symbolische Logik, daß sie hinreichend weit „formal“ wird, um sich die Beachtung der Typenvorschriften, dieser über der eigentlichen Logik noch schwebenden „Metalogik“, im praktischen Gebrauch ganz ersparen zu können, da diese auch in ihrer einfachsten Gestalt, wie in Ihrem AbrißB1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 und meiner „M[athematik] u. L[ogik]“BBehmann, Heinrich!1927@Mathematik und Logik, Leipzig, 1927, praktisch, wie vor allem der 2. Bd. der PMBRussell, Bertrand, und Alfred North Whitehead!1910@Principia Mathematica, Cambridge UK, 1910–1913, 2. Aufl., 1925–1927 zeigt, praktisch noch viel zu unangenehm ist. Einen Ansatz hierzu glaube ich in folgendem gefunden zu haben: Der entscheidende Widerspruch ist m. E. der Russellsche, wie ich ihn begriffslogisch in „M[athematik] u. L[ogik]“BBehmann, Heinrich!1927@Mathematik und Logik, Leipzig, 1927 formuliert habe. Er lautet dort so: Es sei \(\varphi \) eine Variable, die beliebige Eigenschaften durchläuft. Wir bilden die Eigenschaft \((\overline{\varphi _\varphi })^\varphi \), die wir kurz \(F^\varphi \) nennen, und haben dann \(\varphi (F_\varphi \leftrightarrow \overline{\varphi _\varphi })\) bzw. \(F_F\leftrightarrow \overline{F_F}\). Der wesentliche Punkt ist hier, was bisher immer übersehen worden ist, die Einführung des neuen Buchstabens \(F\) durch die Definition \(F_\varphi \leftrightarrow \overline{\varphi _\varphi }\). Soll \(F\) nichts weiter als ein Kurzzeichen sein, so muß sich seine Einführung offenbar wieder rückgängig machen lassen, d. h. wir müssen in \(FF\) das \(F\) durch Einsetzen seiner Bedeutung beseitigen können. Dies ist aber augenscheinlich nicht möglich, und damit zeigt es sich, daß der fragliche Prozeß gar nicht in den logischen Grundzeichen darstellbar, sondern allein durch den Definitionsmechanismus erschlichen ist.

Der Gefahrpunkt liegt also hiernach – dies scheint für die Begriffslogik allgemein zu gelten – nicht im formalen Schließen, sondern einzig in der Einführung von Kurzzeichen durch Definitionen. Die Begriffslogik, d. h. alles rechtmäßig in ihr Darstellbare, würde danach an sich widerspruchsfrei sein und allein die Definitions-, also 🕮 Schriftkürzungsprozesse einer gewissen Überwachung insofern bedürfen, als die Rückübertragung in jedem Falle einwandfrei gesichert sein muß. Damit scheint mir ein Weg zur Vermeidung der Paradoxien und der Typen-Theorie im Kern gegeben zu sein; doch bedarf er natürlich im einzelnen noch der Ausgestaltung.

Es scheint hier eben alles noch so sehr im Fluß zu sein, daß jeder Versuch einer systematischen Darstellung in irgendeinem Sinne doch Stückwerk und Durchgangspunkt bleiben muß, und daher schwer zu sagen, ob man in der genannten Absicht lieber einen möglichst fortgeschrittenen oder einen historisch möglichste eindeutig gegebenen Standpunkt vertreten soll.

Im einzelnen findet, so weit ich mich erinnere, so gut wie alles meinen Beifall, worin Sie von den PMBRussell, Bertrand, und Alfred North Whitehead!1910@Principia Mathematica, Cambridge UK, 1910–1913, 2. Aufl., 1925–1927 abgewichen sind; doch möchte ich Ihnen das Nähere erst schreiben, nachdem ich den Durchschlag von ScholzPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph zurück habe.

Mit freundlichem Gruß und den besten Wünschen für das neue Jahr, vor allem für einen recht guten Kurerfolg‚

Ihr
H. Behmann

Brief, msl., 5 Seiten, RC 028-07-05 (Dsl. RC 115-10-06); Briefkopf: msl. Halle (Saale), den 29. Dezember 1927  /  Schillerstr. 22 I.


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