Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 23. Dezember 1927 Dezember 1927

Lieber Schlick‚

herzlichen Dank für Deinen Brief, der nun so lange unbeantwortet liegen geblieben ist. Ich freute mich sehr, zu hören, daß die Nierenkoliken nur vorübergehend waren und keine Beschwerden zurückgelassen haben. Mir geht es auch gut. Vorgestern war ich wieder beim Arzt. Der Befund war sehr befriedigend; die Geräusche bedeutend gebessert. Trotzdem ich unmittelbar nach jedem Spaziergang immer noch „Bewegungstemperatur“ bekomme, hat er angeordnet, daß ich jetzt die Bewegung allmählich steigern soll; auch mit skilaufen soll ich anfangen, aber nur langsame und harmlose Talspaziergänge, die ja immerhin schon stärkere Atmung bewirken als gewöhnliche Spaziergänge.

Jetzt ist meine FrauPCarnap, Elisabeth, 1895–1987, auch Cha oder Chacha, Grafologin, Tochter von Luisa und Heinrich Schöndube, von 1917 bis 1929 verh. mit Rudolf Carnap hier, und drei von den KindernPCarnap, Johannes, 1922–2012, auch Brüderle, Pfarrer, Sohn von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Hanneliese, 1920–2016, Tochter von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Eline Dorothea, *1926, verh. Angermann, auch Lini, Graphologin, Tochter von Elisabeth Carnap und Broder Christiansen (die ältestePCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap ist den Winter über im Rheinland bei meiner Schwester), für einige Wochen. Besonders zu Weihnachten wird das sehr schön sein. Du kannst Dir denken, wie sich die KinderPCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Johannes, 1922–2012, auch Brüderle, Pfarrer, Sohn von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Hanneliese, 1920–2016, Tochter von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Eline Dorothea, *1926, verh. Angermann, auch Lini, Graphologin, Tochter von Elisabeth Carnap und Broder Christiansen drauf freuen. Hier ist auch so richtiges Weihnachtswetter, alles weiß (wenn auch nur eine dünne Decke), und am späten Nachm[ittag], wenn wir vom Spaziergang heimkommen, freuen sie sich über die vielen Lichter des Dorfes am Berghang, und über die Sterne. Vorgestern haben HanneliesePCarnap, Hanneliese, 1920–2016, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap (7 J.) und BrüderlePCarnap, Johannes, 1922–2012, auch Brüderle, Pfarrer, Sohn von Rudolf und Elisabeth Carnap (5) auch mit skilaufen angefangen, mit großer Begeisterung, wenn auch meist auf ebenem Gelände. In der letzten Zeit hat so, mit Familienbetrieb, Weihnachtsb[e]sorgungen, Briefen usw. die Arbeit etwas brach gelegen. Der Vertrag mit BenaryPBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verleger ist abgeschlossen. Das MSB ist zu 3/5 druckfertig, der Rest wird wohl auch bald fertig sein. Ich habe alles noch durchgearbeitet und überall lieber im Kleinen gekürzt, keine ganzen Abschn[itte] gestrichen. Das wird dem MSB nur nützen, glaube ich. Freilich macht es mehr Arbeit, viele Teile müssen neu getippt werden. Leider will B[enary]PBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verleger das MSB nicht in Teilen haben, sondern erst, wenn es ganz fertig ist; „wegen früherer trüber Erfahrungen“. Eine Frage über den Buchtitel lege ich bei; ob Du mir wieder einen guten Vorschlag machen kannst, nachdem Du mir ja damals den jetzigen Titel geraten hattest, den ich aber nun vielleicht ändern (oder für die spätere Arbeit vorbehalten) möchte. Im Abriß d[er] Log[istik]B1929@Abriß der Logistik. Mit besonderer Berücksichtigung der Relationstheorie und ihrer Anwendungen, Wien, 1929 will ich Deinem Rat entsprechend die Übersichten an den Schluß setzen.

Ich freue mich, von dem Plan der „Ges[ellschaft] f[ür] ex[akte] Phil[osophie]I“ zu hören. Geht der Plan nun seiner Verwirklichung entgegen? Hoffentlich gelingt es dann auch, Hilfe für die ZSIErkenntnis, Zeitschrift zu finden. BenaryPBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verleger schrieb mir, daß er sich an die Notgem[einschaft]INotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft gewendet hat, um Unterstützung des SymposionISymposion, Philosophische Zeitschrift. Wird das nicht in Konflikt kommen mit Eurem ZS-Plan? sowohl bei der Notgem[einschaft]INotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, als wegen der Konkurrenz inbezug auf die Abonnenten? Wäre da nicht vielleicht eine Einigung oder Verbindung möglich?

Wegen meiner letzten AufsätzeBB hatte ich schon im Sommer an die AnnalenIAnnalen der Philosophie, Zeitschrift geschrieben, allerdings hinzugefügt, daß ich Wert auf baldige Veröffentl[ichung] legen würde. Darauf schrieb R[aymund] SchmidtPSchmidt, Raymund, *1890, dt. Philosoph mir ab. Ich habe mir nun überlegt, daß ich sie lieber als Broschüre veröff[entlichen] will. Ich glaube, daß die Fragestellung selbständig genug ist für diese Form, und daß vor allem die allg[emein]-philos[ophischen] Konsequenzen so besser zur Wirkung kommen werden. Ich habe schon mit BenaryPBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verleger darüber verhandelt. Wenn das BuchB fertig ist, will ich, falls dann das SymposionISymposion, Philosophische Zeitschrift wieder erscheint, sie diesem anbieten, wobei sie dann ja außerdem gesondert 🕮 erscheinen können. Andernfalls will B[enary]PBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verleger sie dann verlegen, mit ähnlicher Abmachung wie jetzt (daß ich die Druckkosten trage).

Für nächstes Semester habe ich angekündigt: Philos[ophie] des Raumes (Grundlagen der Geom[etrie]) Mo 11-1, Hs. 16; Übgn. Di 11-1, Liebigg. Falls die Korrektur noch nicht erledigt ist, möchte ich Dich bitten, meine Ankündigung mit zu kontrollieren, wenn Du Deine nachsiehst.

Von einer geplanten „Internat. Universität DavosI hörte ich. Hier habe ich aber nichts davon erfahren. Weißt Du etwas darüber? In einer Illustrierten war im Nov. ein Bild, dabei CassirerPCassirer, Ernst, 1874–1945, dt.-am. Philosoph mit andern, „zur Beratung des Planes“. Einmal sah ich hier von weitem GrisebachPGrisebach, Eberhard, 1880–1945, dt.-schweiz. Philosoph, Prof. in Jena, ohne ihn zu sprechen; ist er viell[eicht] f. d[ie] Univ[ersität]I vorgesehen?

Was macht die Prager Sache? Hat Reich[enbach] den Ruf schon bekommen?

Hast Du nicht Lust, in den Ferien herzukommen? Ich würde mich sehr freuen, bin allerdings jetzt kein Skikamerad. Falls es Dir zu weit ist, so wünsche ich Euch schöne und frohe Tage in Kitzbühel, mit viel Sonne, Schnee und guter Erholung.

Mit herzlichem Gruß, auch an die Deinen, und besten Wünschen zum Neuen Jahr‚

Dein
Carnap

Frage über die Wahl des Buchtitels.B1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928

Der bisher beabsichtigte Titel „Der logische Aufbau der Welt. Versuch einer Konstitutionstheorie der Begriffe“ scheint mir in Konflikt zu geraten mit einer Arbeit, die ich für später plane.

Das Konst[itutions]-Systems ohne Genitiv-s des Buches hat eine eigenpsychische („solipsistische“) Basis. Reihenfolge der Gebiete: Eigenpsych[isches], Phys[isches], Fremdpsych[isches], Geistiges. Diese Reihenfolge ist bedingt durch die Absicht des Systems, die erkenntnismäßige Ordnung der Begriffe darzustellen.

An einer Stelle des BuchesB1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 deute ich kurz an, daß ein andres Konst[itutions]-System möglich ist; mit physischer („materialistischer“) Basis. Reihenfolge: Physisches, Psychisches (ohne Unterscheidung des Ich), Geistiges. Die Leistung dieses Systems ist eine andre: es dient nicht der Erkenntnistheorie, sondern der Realwissenschaft. Es hat als Basisgebiet dasjenige Gebiet, das als einziges eine durchgehende eindeutige Gesetzmäßigkeit seiner Vorgänge besitzt. Die psych[ischen] u. geist[igen] Gegenst[ände] werden hier aus den phys[ischen] konstituiert; dadurch werden sie mit eingeordnet in das eine gesetzmäßige Gesamtgeschehen.

Welches der beiden Systeme verdient mehr den Namen eines „Aufbaues der Wirklichkeit“? Das erste baut die Erkenntnis- (oder Bewußtseins-) Welt auf; vielleicht kann man auch sagen: die Wirklichkeit (als erkannte Wirklichkeit; von einer andern kann ja nicht die Rede sein). Das zweite System kann aber vielleicht stärkeren Anspruch auf den Namen geltend machen: es baut die Wirklichkeit auf als das eine gesetzmäßige Gesamtgeschehen in Raum und Zeit; und ist es nicht vor allem dieser Gesichtspunkt, den wir in der Realwiss[enschaft] bei dem Wort „Wirklichkeit“ vor Augen haben?

Es lockt mich, (später mal) das zweite System in den Grundzügen darzustellen. Da ergäbe sich dann deutlich, welchen (auf das Physische zurückgehenden) Sinn die wissensch[aftlichen] Aussagen der verschied[enen] Gebiete haben. Für jeden neu einzuführenden Begriff wird man dann die Forderung aufstellen können, wenigstens seinen formalen Typusort in dem System angeben zu können; das gibt eine gute Erledigung solcher Pseudobegriffe wie etwa der DrieschPDriesch, Hans, 1867–1941, dt. Biologe und Philosoph-schen Entelechie u. dergl.

Ich möchte den BuchtitelB1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 nun schon mit Rücksicht auf diesen späteren Plan wählen. Vielleicht jetzt „Erkenntnislogik“; das Spätere: „Wirklichkeitslogik“? Dazu der frühere Untertitel? Oder: „Der logische Aufbau der Erkenntnis“, später: „Der log[ische] Aufbau der Welt“? Ist „Erkenntnislogik“ oder „Logik der Erk[enntnis]“ zu blaß?

Für Vorschläge wäre ich sehr dankbar.

Brief, msl., 2 Seiten, MS 95/Carn-21 (Dsl. RC 029-31-01); Briefkopf: msl. Davos-Dorf, den 23. Dez. 1927  /  Chalet Wieser. Anhang, 1 Seite, Briefkopf: msl. Carnap, z. Z. Davos-Dorf, Chalet Wieser. Dez. 1927.


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