\brief{Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 4. November 1927}{November 1927} %Wien, 4. Nov. 1927 \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{hab Dank für Deinen Brief. Es freut mich, daß es Dir verhältnismäßig sehr gut zu gehen scheint, und ich hoffe von Herzen, daß die Höhenluft Dich jetzt so vollkommen ausheilt, daß Du die Beschwerden ein für alle Mal völlig los wirst. Auf Deine Frage wegen Deines Herkommens oder Dortbleibens muß ich leider antworten: bleibe nur ruhig in Davos, wenn Dein Arzt sich davon die geringsten Vorteile verspricht. Ich sage: leider, denn es wird mir wirklich ganz furchtbar leid tun, Dich im Wintersemester nicht hier zu haben, und unserm ganzen Donnerstag-Zirkel\II{\schlickzirkel} wirst Du sehr fehlen. Für meine Lebensanschauung ist die Gesundheit eine so wichtige Sache, daß ich Dir wohl selbst dann kaum anders raten könnte, wenn Deine Abwesenheit die Gefahr eines kleinen beruflichen Nachteils mit sich brächte; aber dies ist nach meiner Überzeugung durchaus nicht der Fall. Schon aus dem sehr einfachen Grunde nicht, weil bei unserm großen Betrieb hier eigentlich niemand offiziell davon Notiz nimmt. Ich glaube sogar, daß Du nicht einmal dem Dekan eine besondere Mitteilung zu machen brauchst, sondern es wird nur nötig sein, dem Sekretär des Dekanats einen Zettel für das Schwarze Brett zu schicken mit der ,,Kundmachung``, daß Deine Vorlesung in diesem Semester ausfällt. Es ist kein Grund, warum Deine Abwesenheit außerhalb überhaupt bekannt werden sollte; und selbst das würde gewiß nichts schaden. Ein paar Monate in Davos haben heutzutage keine ernste Bedeutung. Von Schrödinger\IN{\schroedinger} war \neueseite{} sogar allgemein bekannt, daß er mit seiner Lunge ziemlich übel daran ist, und er ist doch als Plancks\IN{\planckm} Nachfolger nach Berlin gekommen. Die zahlreichen Arbeiten\IC{}, die von Dir in der nächsten Zeit erscheinen werden, werden das beste Zeichen Deiner Vollkraft sein. Wie steht es übrigens mit diesen Arbeiten\IC{}? Hat Benary\IN{\benary} schon mit dem Druck des großen Buches\IC{\konstitutionstheorie} begonnen? Ist die kleine Logistik\IC{\logistik} schon getippt? Schreibe mir bitte bald darüber. In unserer gestrigen Donnerstagsitzung wurde hauptsächlich darüber gesprochen, daß man doch eine Zeitschrift für exakte Philosophie\II{} gründen müsse, und es wurde auch ein Plan ins Auge gefaßt, den wir jedenfalls probieren wollen. Du wirst Dich sicherlich auch sehr freuen, wenn etwas daraus wird, und gewiß auch gern an der Herausgeberarbeit Dich beteiligen. Die englische Reise ist gut verlaufen. Zu einem Bericht darüber fehlt hier der Platz. Der Ertrag war auch mehr allgemein-geistiger als wissenschaftlicher Natur. Eben erhielt ich von einem Londoner Verleger\II{} einen Brief, ich möchte doch bei ihm ein Buch veröffentlichen. Das ist vielleicht ein äußerer Erfolg. Im allgemeinen fühle ich mich sehr wohl. Dennoch macht sich das Vorhandensein des Körpers zuweilen schmerzlich bemerkbar. Gestern wurde ich (während der Vorlesung!) von einer heftigen Kolik befallen, die der alsbald befragte Arzt auf Nierensteine zurückführte. Der Anfall ist vorüber, aber ich muß vorsichtig leben. Meiner Familie\IN{\schlickfrau} \IN{\schlickalbert} \IN{\schlickbarbara} geht es recht gut, beide Kinder\IN{\schlickalbert} \IN{\schlickbarbara} machen uns viel Freude. An un \neueseite{} angenehmen Semesterarbeiten fehlt es nicht; infolgedessen wird meine kleine Ethik\IW{} nur langsam fortschreiten. Auch ist wenig Aussicht auf häufigen Theaterbesuch, viel Reiten\blockade{Rechtschr.?} und dergleichen. Es gäbe noch manches zu erzählen, aber es fehlt an Zeit zu langen Briefen. Grüße bitte Frau Mau\IN{\maue} recht herzlich von mir, wenn Du ihr schreibst, und sei selbst vielmals gegrüßt von} \grussformel{Deinem\\ M. Schlick} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/871057}{RC 029-31-04}; Briefkopf: msl. \original{Wien, 4.\,Nov. 1927}.}