Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 25. August 1927 August 1927

Lieber Carnap‚

ich habe jetzt die ArbeitBFeigl, Herbert!1927@Zufall und Gesetz. Versuch einer naturerkenntnistheoretischen Klärung des Wahrscheinlichkeits- und Induktionsproblems, Diss., Universität Wien, 1927 von Herrn FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl durchgelesen, und da ich vermute, daß Sie mein ausführliches Urteil darüber interessiert, möchte ich Ihnen darüber schreiben. Ich halte es für sehr verdienstlich, daß dieses Problem in Wien in Angriff genommen wird; und die Feiglsche ArbeitBFeigl, Herbert!1927@Zufall und Gesetz. Versuch einer naturerkenntnistheoretischen Klärung des Wahrscheinlichkeits- und Induktionsproblems, Diss., Universität Wien, 1927 ist mit so großem Fleiß und Scharfsinn geschrieben, daß sie sicher einen Fortschritt in Hinsicht auf das Problem bedeutet. Freilich scheint mir der Wert der Arbeit vor allem in der kritischen Gegenüberstellung der bisherigen Theorien zu bestehen, die mir von sehr großem Nutzen für die weitere Diskussion erscheint; die vom Verfasser versuchte eigene Lösung scheint mir dagegen keinen wesentlichen Schritt zu bedeuten.

I. Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl legt großen Wert darauf, das „materiale“ oder Anwendungsproblem der W. zu lösen. (W= Wahrscheinlichkeit) Damit liegt es nun so: es gibt jedenfalls Phänomene, wo die Wahrscheinlichkeitsgesetze gelten. Die Physik lehrt, welche dies sind; z. B. Gaserscheinungen, nicht aber Planetenbewegung. Man kann nun weiter nach den gemeinsamen und allgemeinsten Eigenschaften dieser Phänomene fragen. Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl formuliert sie in seinem Pr.Ergänzung? der statistischen Abstraktion (S. 155); diese Formulierung ist wohl zutreffend, aber sie scheint mir keinen wesentlich anderen Inhalt zu besitzen als das Pr. der Spielräume oder verwandte Ansätze.

Vor allem sehe ich nicht, was hier mit dem Begriff der Abstraktion gewonnen sein soll. Für einen konventionalistischen Lösungs🕮versuch hätte dieser Begriff seine Berechtigung. Aber da der Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl, und mit Recht, einen solchen Versuch ablehnt, so besagt sein Abstraktionsgedanke auch nichts anderes als: nicht zwischen allen Erscheinungen, sondern eben nur zwischen bestimmten gilt die W.Gesetzlichkeit. Aber das ist eine Trivialität. Mit dem Abstraktionsgedanken wäre etwas gewonnen, wenn man etwa beweisen könnte, daß es durch Abstraktion immer möglich ist, die Geltung der W.Gesetze zu erzwingen (Konventionalismus). Aber Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl sieht ganz richtig ein, daß sich so etwas nicht beweisen läßt, sondern daß die Geltung der W.Gesetze als Tatsächlichkeit hingenommen werden muß.

Auch das Aqu.Pr.Ergänzung? des Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl scheint mir diesem Sachverhalt gegenüber keinen wesentlichen Fortschritt zu bedeuten. Gut an seiner Wendung des Satzes vom mangelnden Grunde ist:

1) daß nicht mangelnde Kenntnis von Gründen, sondern objektives Fehlen von Gründen vorausgesetzt wird

2) Daß das Pr. nicht als Erklärungsversuch aufgefaßt wird, in der Tat folgt aus dem Fehlen von Gründen nichts über die Gleichwahrscheinlichkeit, sondern man kann nur sagen, daß es eine Tatsache ist, daß dann Gleichw. bezw. Gleichhäufigkeit vorliegt.

Trotzdem würde es aber ein großer Vorteil sein, wenn das Pr. auf ein tieferes zurückgeführt werden könnte. Jenes tiefere Pr. kann natürlich auch nicht eine Erklärung sein, sondern ebenfalls nur eine Tatsachenaussage; aber vielleicht doch eine Tatsachenaussage allgemeiner Art, die zugleich als ausgestrichen? ver.?gültig in andern Gebieten aufgezeigt wird. 🕮

II. Damit komme ich nun zu einem weiteren Punkt, nämlich zu der Kritik des Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl an meinen ArbeitenB. Da ich vermute, daß meine Stellungnahme hierzu Sie und den Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl am meisten interessiert, will ich darauf näher eingehen.

Denn einen solchen Versuch zu einem tieferen Pr. bedeutet eben mein Pr. der WaFkt. Es ist mir nicht verständlich, warum der Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl dies Pr. formal nennt, im Gegenteil geht es genau so auf das Anwendungsproblem wie sein Pr. Es will nur solche Axiome, wie sein Pr. der stat. Abstr., durch ein tiefer liegendes Axiom ersetzen. Daß es bisher nicht gelungen ist, alle Phänomene der W. auf dieses Axiom zurückzuführen, habe ich ja immer ausgesprochen; aber ich beurteile hier die Situation durchaus nicht so ungünstig wie Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl, wenn das Pr. der W.Fkt. dabei vielleicht auch eine Erweiterung erfahren muß.

Worin besteht nun der Vorzug meines Pr. der W.Fkt.? Es bedarf keiner besonderen metrischen Annahme mehr, es verlegt das W.axiom aus einer metrischen in eine topologische Annahme. Dies scheint mir ein Vorzug zu sein, der bisher von keiner anderen W.theorie erreicht wurde.

Hierzu tritt nun noch ein zweiter Vorzug. Ich habe zwar damals das Axiom, noch ganz im Bann der KantischenPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph Philosophie stehend, ein synthetisches Urteil apriori genannt; daß das nicht haltbar ist, habe ich wohl selbst am deutlichsten ausgesprochen ergänzen!(Rel. u. Erk. apr. S. 72 u. Anm. 24; Metaphys. u. Nat., SymposionISymposion, Philosophische Zeitschrift S. 169B). Aber meine damalige Arbeit läßt sich von dieser KantischenPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph Zutat leicht befreien. Der wichtigste Gedanke dieser Arbeit ist der: das Pr. der W.Fkt. wird nicht nur in den W.Phänomenen, sondern in jedem physikalischen Urteil überhaupt vorausgesetzt. Damit ist jene Verallgemeinerung des W.axioms geleistet, von der ich oben sprach. 🕮

Gerade dieser Gedanke ist nun vom Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl leider gar nicht aufgenommen worden, wie mir seine ganz unhaltbaren Ausführungen auf S. 208 beweisen. Seine Unterscheidung zwischen ungefähren und genauen Gesetzen ist nicht haltbar, das ist nur ein gradueller Unterschied. Man kann das Pr. der W.Fkt. nicht abschieben auf ein Pr. zur Erhöhung allein der Präzision – sondern in dem Präzisionsproblem liegt eben schon das ganze W.Problem. Dies erkannt zu haben, scheint mir der Wert meiner Arbeit von 1914 zu sein; und das ist unabhängig von der KantianischenPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph Einkleidung.

III. Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl macht mir weiter den Einwand, daß ich das Konvergenzproblem offen lasse. Ich gebe gern zu, daß dieses Pr[o]b[lem] in jener Arbeit nicht gelöst ist. Aber es ist seitdem überhaupt nicht gelöst worden, und auch Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl löst es nicht, sondern übernimmt die üblichen Formulierungen. Denn was hätte sein Pr. der Abstr. sonst für einen Inhalt? Es kann doch nur heißen: suche dir die und die Naturgebiete heraus, dann wirst du die W.gesetze als gültig finden. In diesem „gültig“ liegt aber das Konvergenzproblem.

Die Schwierigkeit liegt eben darin, daß eine strenge Geltung der W.Gesetze nur für unendlich viele Fälle behauptet werden kann, aber immer nur endlich viele Fälle gegeben sind. Will man diese Schwierigkeit umgehen, so gibt es meines Erachtens nur einen Weg: man führt die Annahme, daß in endlich vielen Fällen ein Ereignis wahrscheinlich einritt, axiomatisch als sinnvoll ein. Diesen Weg bin ich [im Zusammenhang mit der] Kausalstruktur gegangen. – Es ist überhaupt schade, daß Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl auf meine neuren Arbeiten zur W., also Kausalstruktur und Metaphys. u. Nat., gar nicht eingegangen ist. 🕮

Die Ausführungen des Verf.PFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl zum Geltungsproblem gipfeln in der wohl auf SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick zurückgehenden Ansicht, daß es sich hier überhaupt nicht um ein theoretisches Problem handelt, sondern um ein praktisches – ich kann leider mit dieser Auffassung gar nichts anfangen. Das ist nicht eine Lösung, sondern ein Weglaufen vor der Lösung. Das analoge könnte man ja mit dem Wahrheitsbegriff machen, und in der Wahrheit eines Satzes nicht eine sinnvolle Eigenschaft sehen, sondern lediglich eine Anweisung für unser praktisches Verhalten. Das Problem ist aber gerade, ob eine Anweisung für praktisches Verhalten sinnvoll ist, bezw. welchen Sinn sie hat. Warum gibt man denn nicht eine andere Anweisung? Warum gibt man nicht die Anweisung, daß man immer das unwahrscheinliche erwarten soll? Wenn man darauf antworten wollte, daß das Erwartete dann nicht eintreten würde, so ist dazu zu sagen: 1) kann man nur sagen, daß es wahrscheinlich nicht eintritt, und 2) hat man in der Antwort eben einen theoretischen Sinn des W.Begriffes vorausgesetzt.

Sie sehen, ich kann mich mit dem positiven Teil der Feiglschen ArbeitBFeigl, Herbert!1927@Zufall und Gesetz. Versuch einer naturerkenntnistheoretischen Klärung des Wahrscheinlichkeits- und Induktionsproblems, Diss., Universität Wien, 1927 nicht einverstanden erklären. Bitte wollen Sie aber in meiner Kritik nicht eine Herabsetzung der vorliegenden persönlichen Leistung sehen; die Schwierigkeit liegt in der Sache, und als einer, der in diesen Dingen viel mitgearbeitet hat, gehe ich an eine solche Arbeit mit viel schärferem Maßstab heran als andere. Auch stehen meine Einwände selbstverständlich Herrn FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl gern zur Verfügung, und es würde mich sehr freuen, wenn sich einmal eine Gelegenheit zu mündlicher Aussprache finden sollte.

Ich bin mit den besten Grüßen

Ihr
[Hans Reichenbach]

Wohin soll ich das Ms.BFeigl, Herbert!1927@Zufall und Gesetz. Versuch einer naturerkenntnistheoretischen Klärung des Wahrscheinlichkeits- und Induktionsproblems, Diss., Universität Wien, 1927 zurückschicken?

Brief, msl. Dsl., 5 Seiten, HR 015-30-24; CD: Als Anlagen (?) Briefe von Feigl an Reichenbach und von Reichenbach an Feigl (HR 15-30-20 bis -23) Briefkopf: msl. 25. 8. 27.


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