\brief{Wilhelm Burkamp an Rudolf Carnap, 27. Juni 1927}{Juni 1927} %Rostock, den 27.Juni 1927. \anrede{Sehr geehrter Herr Carnap!} \haupttext{Entschuldigen Sie bitte, daß ich erst jetzt auf die freundliche Sendung Ihres gedrängt gehaltvollen Symposion-Artikels\IC{\uneigentlichebegriffe} antworte. Ich konnte erst jetzt dazu kommen, ihn gründlich zu studieren. Es ist viel darin, dem ich große Bedeutung zusprechen möchte, z.\,B. die Ausführungen über Monomorphie und Polymorphie, formale Modelle, Beziehung der impliziten Definition zum Anwendungsfall, Entscheidungsdefinitheit u.\,A. Förderlicher scheint es mir aber, die beiden Punkte hervorzuheben, in denen ich Ihre Unterscheidungen nicht der Sache angemessen erachten muß. Ich hoffe, daß Sie daraus, daß die Feststellung dieser Punkte den größten Teil dieses Briefes füllen, nicht auf eine ungünstige Meinung über Ihre mutige Arbeit schließen. Ich halte Ihre Hineintragung des Ausdrucks ,,Satz vom ausgeschlossenen Dritten`` in die Betrachtung der verschiedenen Entscheidungsdefinitheit polymorpher und monomorpher Systeme für sehr instruktiv. Sie kann bei sorgfältigem Durchdenken aller Beziehungen zur exakten formalen Logik vorzüglich zeigen, daß es sich um den \uline{logischen} Satz vom ausgeschl[ossenen] Dritten gar nicht handeln kann. Es handelt sich doch gewiß nicht bei jeder als unzulässig nachgewiesenen Disjunktion zwischen zwei Sätzen, die etwas Gegensätzliches haben, um eine Verletzung des logischen Satzes vom ausgeschl[ossenen] Dritten. Sie werden auch wohl nicht der Meinung sein, daß mit Ihrer Feststellung S.\,363 unten bis 364\,oben wirklich schon der logische Satz vom ausgeschl[ossenen] Dritten für die vorliegende Sachlage außer Gültigkeit gesetzt sei. Gerade ein gründliches Durchdenken der Entscheidungsdefinitheit in den Fällen \neueseite{} Ihrer Arbeit könnte m.\,E. auch zur Durchschauung der Sachlage im strittigen Gebiet der Sätze, die Brouwer\IN{\brouwer}-Weyl\IN{\weyl} beanstandet haben, führen, soweit hier wirklich der logische Satz vom ausgeschl[ossenen] Dritten in Frage kommt. Ich bedaure, daß Sie -- wohl um Ihre Arbeit nicht noch mehr mit für weitere Kreise schwer verständlichen Problemen zu belasten -- nicht näher auf dies Problem eingehen, dessen Beziehungen zur Logik mich intensiv beschäftigen. Die Frage, ob zwei begriffslogische Sätze einander gegenseitig die Negation bedeuten, ob sie also einander kontradiktorisch entgegengesetzt sind, ob sie also dem Satz des ausgeschl[ossenen] Dritten unterworfen sind, bedarf jedesmal erst einer eingehenden Untersuchung sowohl des zugrunde liegenden Axiomensystems als auch in Beziehung dazu der Satzfunktionen, die in die Sätze eingehen. Vielleicht haben Sie die nähere Ausführung dessen in meiner Arbeit über die Krisis d[es] Satzes v. ausg[eschlossenen] Dr[itten]\IW{}, die ich Ihnen zusandte, gelesen (\textsection{}III -- XI\blockade{könnte auch VI heißen}). Bei Ihrem wohl aus didaktischen Gründen sehr einfachen Beispiel ist die Lösung natürlich sehr einfach. Da es sich um ein polymorphes Axiomensystem mit verschiedenen monomorphen Axiomensystemen, die ,,darunterfallen``, handelt ist hier gegenseitiges Negat, kontradiktorische Gegensätzlichkeit ebensowenig und aus demselben Grunde nicht gegeben wie zwischen den beiden Sätzen ,,Fische sind eierlegend`` und ,,Fische sind nicht-eierlegend (lebendiggebärend)``. Der logische Satz vom ausgeschl[ossenen] Dritten hat deshalb mit solchen Disjunktionen nichts zu tun und kann für die legitimen \uline{kontradiktorischen} Gegensätze jedes der beiden Sätze nicht darum ungültig werden. Schwierig scheint mir eine Einigung über einen wirklich tiefgehenden Dissens zwischen uns zu sein, was mir um so mehr leid tut als es sich um eine Auffassung handelt, die Ihnen besonders am Herzen zu liegen scheint. Ich kann die Gliederung ,,Eigentliche Begriffe (Real\neueseite{}begriffe + Formalbegriffe) + Uneigentliche Begriffe`` nicht für angemessen erachten. Die Auseinanderreißung der Formalbegriffe und des von Ihnen unter dem uneigentlich Begrifflichen subsumierten axiomatischen Denkens kann ich nicht billigen. Ein ,,man kann so und man kann so`` übersieht doch die sachliche Einheit des Gegenstands. So scheint mir auch besonders die Unterscheidung von Russellschen\IN{\russell} und Peanoschen\IN{\peano} Zahlen unberechtigt zu sein. Es gibt nur Peanosche\IN{\peano} Zahlen, und die Russellschen\IN{\russell} Zahlen (wie erst recht die Fregeschen Zahlen) beruhen m.\,E. auf einem Mißverständnis der eigenartig fundamentalen Rolle, die die spezifisch logische Form im Aufbau des einheitlichen Corpus logico-mathematicum zu spielen hat. Diese Zusammenhänge, mit denen ich mich lange und intensiv beschäftigt habe, kann ich hier in Kürze nicht wiedergeben. Einiges Näheres darüber in meinem Buch ,,Begriff u. Beziehung``\IW{} I.\,Kap. (\textsection{}\,94-103) und dazu \textsection{}\,86 (überhaupt das ganze 11.\,Kap). Die Realbegriffe würde ich in ihrer formalen Eigentümlichkeit lieber vom Marburger Standpunkt aus erfassen als vom Russellschen\IN{\russell} Realismus aus, wenn auch die Marburger in andrer Hinsicht nicht das Fundamentalste gesagt zu haben scheinen. Die Möglichkeit, die Realbegriffe als \uline{die} konstanten Begriffe aufzufassen (II E), schreibt sich nur der willkürlichen, wenn auch für unsere Denkpraxis höchstbedeutsamen Zugrundelegung des Individualgebiets der Wirklichkeit zu. Sie bedeutet, von der höheren Perspektive des Individualitätsbegriffs und des Begriffs eines Individualgebiets aus besehen, nichts Besonderes, das man nicht auch außerhalb der Realbegriffe ebenso zu konstituieren berechtigt ist (Begr[iff] u. Bez[iehung]\IW{}, Kap.\,5 und 6). Davon hängen auch die anderen von Ihnen hervorgehobenen formalen Eigentümlichkeiten der Realbegriffe ab. Ich bin durchaus der Meinung, daß die Realbegriffe das eigentliche (m.\,E. besser das fundamental einzig werthafte) \neueseite{} Objekt der Wissenschaft bilden (Begr[iff] u. Bez[iehung]\IW{}, \textsection{}\,34). Aber die formalen Eigentümlichkeiten der Wirklichkeitsbegriffe sind darum noch nicht auf das Wirklichkeitsgebiet eingegrenzt. Ich hoffe, daß Sie diese freimütige Darlegung gerade der Divergenzen mir nicht übelnehmen, und verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung} \grussformel{Ihr sehr ergebener\\ Wilhelm Burkamp} \blockade{ksl. Notiz} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869830}{RC 028-08-02}; Briefkopf: msl. \original{Rostock, den 27.\,Juni 1927}.}