\brief{Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 24. Juni 1927}{Juni 1927} %Prof. H. Reichenbach %Berlin-Zehlendorf, d.24.6.27. %Schützstr45 \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{endlich komme ich dazu, auf Ihren Brief vom 9.\,5. zu antworten. Schuld an der Verzögerung ist mein Umzug von Stuttgart nach Berlin; die Wohnungssache, die gerade an dem Tage, wo Sie bei uns waren, sich eröffnete, hat inzwischen zu einem Tausch geführt, und ich habe nun den letzten Stuttgarter Staub von meinen Füßen geschüttelt. Sehr gefreut hat es mich, daß Sie mir inzwischen einen Ihrer Wiener Schüler\IN{\natkin} geschickt haben, und daß ich durch ihn manches von Ihrem Wiener Kreise\II{\schlickzirkel} erfuhr. -- Sie haben also auch schon Näheres über Prag gehört. Frank\IN{\frankphilipp} schrieb mir, daß die Fakultät\II{\fakultaetprag} jetzt die Liste abgeschlossen habe und mich an erster Stelle darauf gesetzt habe. Bis zum Ruf kann es noch lange dauern, und ich habe deshalb den Umzug nach Berlin doch noch gemacht, zumal alles schon eingeleitet war, als Franks\IN{\frankphilipp} Nachricht bei mir eintraf, und ich nicht mehr gut zurück konnte. Übrigens weiß ich gar nichts über die weitere Besetzung der Liste; haben Sie etwas darüber gehört? Daß Sie mich im Radio gehört haben, hat mir viel Spaß gemacht. Sie sollen dafür auch diese Vorträge\IW{} haben, sobald sie im Druck erschienen sind. Die Antworten auf Ihre Bemerkungen zu meinem Ms.\IW{\reichenbachraumzeit} lege ich ein. Es freut mich, daß wir darin so weitgehend übereinstimmen. Das Buch\IW{\reichenbachraumzeit} wird jetzt wohl bald bei de Gruyter\II{\gruyterverlag} erscheinen, einige geringe noch bestehende Differenzen werden wohl bald geregelt sein, \neueseite{} sodaß ich mit einem Erscheinen zum Herbst rechne. Von Schlick\IN{\schlick} oder Springer\II{\springerverlag} habe ich nun seit Anfang des Jahres nichts mehr gehört, sodaß ich mit der Möglichkeit eines Erscheinens in der Schlickschen Sammlung\II{\schriftenwisswelt} nicht mehr rechnen konnte. Ich bin mit besten Grüßen} \grussformel{Ihr\\{}[Hans Reichenbach]} \briefanhang{Ich gehe im folgenden nur auf Ihre ersten Einwände ein, für die redaktionellen Hinweise, die sich ja von selbst erledigen, vielen Dank. Ich will sie gern berücksichtigen. Zur Frage der Kausalität: ich habe jetzt überall den Terminus ,,Singularität`` der Kausalbeziehung gestrichen und anstatt dessen von ,,Anomalie`` der Kausalbeziehung besprochen. Unter normaler Kausalbeziehung verstehe ich solche, bei der es keine prästabilierte Harmonie gibt, und bei der endliche materielle Stücke nicht unendlich groß werden können, bezw. unendliche Raumstrecken nicht in endlicher Zeit durchlaufen werden können. Erst mit Hinzutreten auch dieser zweiten Forderung wird die Topologie eindeutig! \neueseite{} Antworten: \uline{S.\,180.} Der Unterschied zwischen dem Einzelvorgang und der Klasse gleichartiger Vorgänge muß natürlich gemacht werden, und ich sehe nicht, wo ich dies vergessen hätte. Unsere Differenz scheint mir in folgendem zu liegen: ich halte es für eine sinnvolle Aussage, zu sagen ,,wenn man an einem gewissen zukünftigen Einzelvorgang ein Kennzeichen anbringt, geschieht das und das, und wenn man es nicht tut, geschieht das und das``. Ich glaube, daß man den Inhalt der Physik ohne derartige Aussagen nicht fassen kann. Sie glauben, daß man den Sinn dieser Aussage zurückführen könne auf Aussagen über die Klasse aller Vorgänge dieser Art; ich glaube das nicht. Aber diese Frage gehört in die Kritik des Wahrscheinlichkeitsproblems. Soweit hier die Fragen von Raum und Zeit betroffen werden, sind wir wohl einig. \uline{S.\,186.} Wenn man sehr lange geschlossene Zeitketten annimmt, würde das Problem des Individuums nicht akut werden, gewiß. Aber deshalb tritt das Entscheidende gerade erst heraus, wenn man die Ketten kurz annimmt. Wenn ich einem Menschen begegne, der mit Recht als Fortsetzung meines Ich bezeichnet werden muß, sind eben zwei Ich nebeneinander, und nicht mehr ein Individuum. Meine Behauptung ist so zu verstehen: wenn es geschlossene Kausalketten gibt, so können (nicht müssen) Bedingungen eintreten, unter denen die Genidentität nicht festgehalten werden kann. \uline{S.\,187.} Man muß wohl sagen, daß es ein tiefes Prinzip der bisherigen Naturerkenntnis ist, daß es geschlossene Ketten nicht gibt. Mindestens ist das so sicher, wie die Geltung des Kausalsatzes. Natürlich kann damit für die Zukunft nichts ausgeschlossen werden, es ist eben nur ein empirischer Satz. Aber insofern der tiefste, als \neueseite{} seine Verletzung die einschneidendste Änderung im Weltbild bedeuten würde. \uline{S.\,318.} Ich will mich da, so sehr ich natürlich den positivistischen Standpunkt in bezug auf den Kraftbegriff anerkenne, gegen die Übertreibung dieses Standpunktes wahren. Schließlich steht es mit der Kraft nicht anders als mit allen andern physikalischen Begriffen. Manche Physiker glauben, mit der Energie sei es anders; aber das wäre ganz falsch (Heinrich Hertz\IN{\hertzheinrich}). Die Kraft ist auch keine ,,schlechtere`` Größe als etwa die Energie oder die Temperatur. \uline{S.\,342.} Ich glaube nicht, daß Sie das deduzieren können. Sie sagen etwa: ich kann beweisen, daß es für jeden Weltpunkt eine Dimensionszahl gibt, nur nicht gerade, daß es überall die gleiche ist. Aber erstens setzen Sie dabei voraus, daß Sie an jedem Weltpunkt mit endlich vielen Parametern auskommen können; zweitens hat es wohl doch nur einen Sinn, von einem Raum veränderlicher Dimensionszahl zu reden, wenn die Dimensionszahl in endlichen Gebieten im allgemeinen dieselbe bleibt, und nur an einzelnen Stellen springt (die\unl{}\fnA{Loch; wahrscheinl. ,,diese``} entspricht einer Stetigkeitsvoraussetzung). Und die Geltung dieser Voraussetzungen ist doch nur empirisch. -- Ich glaube nicht, daß man überhaupt irgendeine Eigenschaft apriori von der Welt beweisen kann, sondern immer nur Implikationen. \uline{S.\,347.} Ich habe das Ms.\IW{\reichenbachraumzeit} nicht zur Hand, da das andere Exemplar bei de Gruyter\II{\gruyterverlag} ist. Aber es handelt sich wohl nur um eine redaktionelle Sache. \uline{S.\,350.} Sie mögen Recht haben. Aber gerade deshalb muß die Behauptung als neues Axiom hinzugefügt werden. Ob dieses Axiom nun physikalisch richtig ist, ist ja von sekundärer Bedeutung.} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848690}{HR 015-03-08}; Briefkopf: msl. \original{Prof. H. Reichenbach \,/\, Berlin-Zehlendorf, d. 24.\,6.\,27 \,/\, Schützstr. 45}.}