Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 19. Juni 1927 Juni 1927

Lieber Herr Dr. Carnap!

Dankend sende ich Ihnen die mir überlassene Studie über die „Unmöglichkeit einer Gabelung der Arithmetik“B zurück. Meinen Einwand hiegegen habe ich schon im Schlick-KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis vorgebracht und will ihn jetzt knapp formulieren. Die Behauptung der Unmöglichkeit einer Gabelung der Arithmetik ist identisch mit derjenigen der Vollständigkeit des PeanoPPeano, Giuseppe, 1858–1932, ital. Mathematiker-RussellschenPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Axiomensystems - am Rand sc.\,/\,gehört das zum Satz? nach Ihrer Grundauffassung, da die ja einen Gegenstand „hinter den Axiomen“ auf den diese zu passen hätten nicht berücksichtigen. Nun kann aber nach dieser Auffassung Vollständigkeit gar nichts anderes bedeuten als notwendige Isomorphie zweier beliebiger inhaltliche Interpretationen– Vgl. auch WeylPWeyl, Hermann, 1885–1955, dt.-am. Mathematiker und Physiker (Ph[ilosophie] d[er] M[athematik] u. N[aturwissenschaft]BWeyl, Hermann!1926@Philosophie der Mathematik und der Naturwissenschaft, München, 1926 S. 22) „Ein Axiomensystem ist vollständig, wenn 2 inhaltliche Interpretationen desselben notwendig isomorph sind.“ Wenn Sie nun die Isomorphie voraussetzen, dann ist freilich die Vollständigkeit klar. Aber solange ich mir über die Vollständigkeit der arithmetischen Axiome keine Gewißheit verschafft habe, darf ich auch keine (totale) Isomorphie zwischen 2 Progressionen annehmen.

Direkte Vollständigkeitsbeweise aber halte ich sehr wohl für möglich u. zwar auf Grund der von GeigerPGeiger, Moritz, 1880-1937, dt.-am. Philosoph prinzipiell entwickelten Aufstellung eines „Stammbaumes der Möglichkeiten“, also durch Fortschreiten vom logisch Elementaren u. relativ Unbestimmten zu höheren Komplexionen v. Bestimm?heiten. Auf diese Weise muß man endlich zu einem Punkt gelangen wo nichts mehr unbestimmt ist. Ich glaube, daß Sie selbst sich in sehr verwandten Gedankengängen bewegen und empfehle Ihnen daher die nochmalige aufmerksame Lektüre des Geiger’schen BuchesB.

Wollen Sie meine gestrige Übermüdung und Nervosität entschuldigen!

Beste Grüße

Ihr aufrichtig ergebener
Felix Kaufmann

Brief, hsl, 1 Seite, UCLA 01-CC01; Briefkopf: hsl. 19/VI 27.


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