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Lieber Reichenbach!
Ich hatte das Vergnügen, am 20. u. 25. Apr. in Buchenbach Ihre Radiovorträge
Die weiteren Teile Ihres MS „Raum u. Zeit“
Prinzipielle Einwände von einschneidender Art habe ich nicht zu machen. Das scheint mir ein erfreuliches Symptom dafür, daß wir jetzt in der Naturphilosophie wirklich an einer Wissenschaft arbeiten, da die Auffassungen in den wichtigsten Punkten in unserm Kreise immer mehr konvergieren, also die subjektive Komponente (die in der trad[itionellen] Philos[ophie] so riesengroß ist) abnimmt. Nur bei einigen Punkten, die mit der Kausalität zusammenhängen, sind vielleicht noch größere Divergenzen vorhanden. Doch müssen wir zu deren deutlicher Erkennung Ihren II. Band
Von kleineren Bemerkungen möchte ich folgenden machen.
S. 180 f. Auf die Frage selbst, ob der Gedanke der Auszeichnung der Zeitrichtung durch die Methode des Kennzeichens durchführbar ist, will ich aus dem eben genannten Grunde noch nicht eingehen. Zur Begriffsbildung möchte ich aber bemerken, daß scharf unterschieden werden muß zwischen einem konkreten Vorgang (der seine bestimmte Raum-Zeit-Stelle hat) und einer Klasse gleichartiger Vorgänge; man bezeichnet diese auch oft als „einen Vorgang“, sollte ihn dann aber als einen „generellen“ vom „individuellen“ oder „konkreten“ unterscheiden. Ich habe auch aus Ihren früheren Schriften und aus Gesprächen den Eindruck, daß Sie diesen Unterschied nicht immer genügend beachten. Hier (S. 180) handelt es sich nicht um 2 Vorgänge (E1 und E2), sondern um eine Klasse von Vorganspaaren. An einem Ereignis läßt sich kein Kennzeichen anbringen, es ist entweder mit oder ohne K[ennzeichen]; gemeint ist eine Klasse von Ereignissen, die zum Teil das Kennz[eichen] haben, zum Teil nicht (besonders deutlich bei den Beispielen S. 181). Aus der Nichtbeachtung ergeben sich zuweilen schiefe Formulierungen, die auf den Inhalt zurückwirken.
S. 186. „Damit entfiele die Möglichkeit‚ das Ich als das eine identische Individuum in der zeitlichen Entwickl[ung] aufzufassen“. Ich bin davon noch nicht überzeugt. Die darauffolgenden Sätze habe ich nicht verstanden (vielleicht, weil ich die Figur nicht dazu hatte?). (Übrigens brauchte die Rückkehrdauer ja auch nur lang genug zu sein, um keine Schwierigkeiten des psych[ischen] Indiv[iduums] zu ergeben).
S. 187. Es ist mir gar nicht sicher, ob es wirkl[ich] ein tiefes Prinzip der Naturerkenntnis ist, daß es keine geschlossenen Kausalketten gebe.
S. 318-320. Die Polemik gegen die Ausschaltung des Kraftbegriffes scheint mir etwas zu weit zu gehen. Die dargestellten Gedanken sind inhaltlich richtig, wenn man unter „Kraft“ das richtige versteht. Der Leser aber wird es leicht als Verteidigung desjenigen Kraftbegriffs auffassen, der als anthropomorph zu verwerfen ist, und um dessen Ausschaltung aus den physikalischen Überlegungen wir ja alle bemüht sind.
S. 342‚ Z[eile] 4 v[on] u[nten] Mir scheint, es ist nicht eine empirische, sondern eine analytische Aussage, daß es eine topologische Ordnung gibt, die die Erfüllung des Nahewirkungsprinzips gestattet. Damit ist dann mitgesagt, daß es für jeden Weltpunkt eine Dimensionszahl gibt. Bestimmte Eigenschaften dieser top[ologischen] Ordnung sind dann empirisch, z. B., daß die Dim[ensions]-Z[ahl] für alle Weltp[unkte] die gleiche ist. Ich würde also vorschlagen: anstatt „Natur… überhaupt eine“ richtiger: „es läßt sich mathematisch zeigen, daß es für jeden Weltpunkt mindestens eine“. Dementsprechend würde ich S. 348‚ Z[eile] 7 „überhaupt durchführbar ist und“ streichen.
S. 347 unten. Meiner Meinung nach ist soviel nicht bewiesen. Vielleicht könnte man sagen: „Das Nahewirkungspr.
S. 350 b. Anm. Ich glaube, daß die Frage, ob die Möglichkeit eines Koordinatensystems für die Welt als Ganzes aus der infinitesimalen Geltung der spez[iellen] RT gefolgert werden kann, bestimmt zu verneinen ist. Der Vorschlag, diese Möglichk[eit] als Axiom aufzustellen, geht an, ist aber doch ziemlich kühn. Woher weiß man denn das? Das hängt doch von den Zusammenhangsverhältnissen im Großen ab (aus der Stetigkeit und Singularitätenfreiheit der Raumzeitordnung ist es noch nicht zu erschließen). Mir ist übrigens nicht bekannt, ob die Topologen schon wissen, welche top[ologischen]
Vielleicht ist es Ihnen auch recht, auf einige Stellen aufmerksam gemacht zu werden, wo die Formulierung etwas korrekter gemacht werden könnte. (Nur der Kürze halber gebe ich eine neue Formul[ierung] an).
S. 216 d. „In der Ausdrucksweise … Feld der Bez.
S. 331‚ Z[eile] 11. Genau müsste das Kriterium lauten: „Topologisch verwandt sollen zwei Mannigfaltigkeiten \(A\) und \(B\) heißen, wenn es zu jedem Punkt \(P\) von \(A\) mindestens einen Punkt \(P‘\) von \(B\) gibt derart, daß sich zwei topol[ogisch] äquivalente Gebiete \(g\) und \(g‘\) herausschneiden lassen, sodaß \(P\) in \(g\) und \(P‘\) in \(g‘\) liegt, und umgekehrt“. Einfacher (wenn auch nicht völlig exakt) kann man vielleicht sagen: „topol[ogisch] verwandt sollen zwei Mann[igfaltigkeiten] heißen, wenn sich aus ihnen für jede in einer der beiden Mann[igfaltigkeiten] bezeichneten Stelle Gebiete herausschneiden lassen, die top[ologisch] äqu[ivalent] sind“.
S. 336‚ Z[eile] 1. Anstatt „die Lehre von der Genid.
S. 354. (und auch in der Überschrift S. 350) anstatt „Realität lieber „Objektivität“; nur von dieser ist ja in den Sätzen vorher die Rede; oder wenigstens „Realität (im Sinne der Objektiv[ität])“.(S. 355 oben „Wirklichkeit“ und „Wirkl[ichkeits]-Aussagen“ kann trotzdem stehenbleiben.)
Einige Schreibversehen:
S. 223, Z[eile] 10. Anstatt „Zuständen“: „Zeiträumen“‚
S. 230, Z[eile] 8.“„endloser“„endlicher“ (wie Z[eile] 9)‚
S. 260, Z[eile] 11.“„parallele“„parabolische“.
Meine Bemerkungen zum 1. Teil habe ich Ihnen ja schön mündlich gemacht. Folgender Gedanke (von dem ich nicht mehr weiß, ob ich ihn deutlich ausgesprochen habe) scheint mir wichtig zu sein: die Frage nach der Topologie des Raumes kann, scheint mir, dadurch eindeutig gemacht werden, daß man verlangt, daß völlig gleiche Vorgänge als identisch genommen werden; ich würde diese Forderung der (zum gleichen Zwecke aufgestellten) Forderung vorziehen, daß „die Kausalgesetze singularitätenfrei“ sein sollen; denn das sind sie auch in manchen der abzulehnenden Fälle; dieses Prinzip sondert also nicht scharf genug aus.
Vergessen Sie bitte bei all dieser Einzelkritik nicht meine Zustimmung im Ganzen. Die sehr glückliche und klare Darstellung mancher Fragen, über die heute noch Verwirrung herrscht, wird sicherlich sehr fruchtbare Wirkung tun.
Frank
Mit herzlichen Gruß
Ihr
R. Carnap
Brief, msl., 5 Seiten, HR 015-03-10 (Dsl. RC 102-64-01); Briefkopf: gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Wien XVIII, Hockegasse 77a, msl. den 9. Mai 1927.