Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 20 März 1927 März 1927

Lieber Herr Schlick!

Ich hoffe, Sie haben auch inzwischen Ihre Ferienfreiheit schon zu spüren bekommen und sich von der Überlastung des Semesters schon etwas erholt. Mir geht es gesundheitlich ganz gut. Auch MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue, verh. mit Josef Gramm geht es gut. Das Berliner Leben in voller Selbständigkeit hat ihr anscheinend sehr gut getan.

Ich kam zufällig, von Bekannten im Auto von Nürnberg nach Bamberg fahrend, durch Erlangen und versuchte, BernaryPBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verlegertypo? später Benary aufzusuchen, er war aber verreist. Plötzlich rief er mich hier in Berlin an. Zu einem Treffen hatte er keine Zeit mehr, so haben wir nur teleph[onisch] verhandelt. Es war merkwürdig, daß er, gerade als ich im Begriff stand, ihm die KonstitutionstheorieB1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 zum Verlag anzubieten, mir seinen Zweifel an der Hauptthese dieser Theorie mitteilte, die in meinem Symposion-AufsatzB1927@„Eigentliche und uneigentliche Begriffe“, Symposion 1, 1927, 355–3741R. Carnap: Eigentliche und uneigentliche Begriffe. – In: Symposion, 1 (1927). – S. 355-374 angedeutet war. (Ableitungssystem aller Begriffe). Er schrieb:

„…daß wir beide Referenten Bedenken gegen die Stelle … haben. Wir glauben kaum, daß der postulierte Ableitungszusammenhang besteht und nachweisbar ist, und würden es eigentlich für besser halten, wenn die Arbeit diese Behauptung nicht enthalten würde. …“

Später schrieb er mir dann, daß dieser Zweifel kein Hinderungsgrund gegen die verlegerische Annahme des Buches sein würde. In dem Tel.-Gespräch gab er mir vor allem den Rat, bei der Deutschen NotgemeinschaftINotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft einen Antrag um Gewährung einer Druckkostenbeihilfe zu beantragen. Er glaubte, daß ein solcher Antrag, gestützt auf ein Gutachten von Ihnen über das MSB, Aussicht auf Erfolg haben würde. Der Autor muß Reichsdeutscher sein, und das trifft bei mir zu. Ich erfuhr, daß PlanckPPlanck, Max, 1858–1947, dt. Physiker im Vorstand der NGINotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft ist; haben Sie vielleicht auf diesem Wege Beziehungen zu der Organisation? BenaryPBenary, Wilhelm, 1888-1955, dt. Psychologe und Verleger sagte, daß er, wenn die NGINotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft einen Zuschuß in angemessener Höhe bewillige, finanziell in der Lage sei, das Buch zu verlegen, und dann gern der Sache nähertreten wolle. Er möchte jedoch diese verlegerischen Verhandlungen auf Mai verschieben, 🕮 da er jetzt sehr in Anspruch genommen ist, besonders durch eine geplante Übersiedlung seines Verlages.

Falls Sie den Antrag an die NGINotgemeinschaft der deutschen Wissenschaft für zweckmäßig und aussichtsvoll ansehen, so wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zu diesem Zweck ein Gutachten über das MSB geben würden. Vielleicht können Sie mir auch eine Adresse angeben, an die ich mich am besten wende?

Der Symposion-AufsatzB1927@„Eigentliche und uneigentliche Begriffe“, Symposion 1, 1927, 355–374 ist jetzt im Druck. Das Heft wird also demnächst erscheinen. Ich freue mich, darin mit Ihnen zugleich aufzutreten.2M. Schlick: Vom Sinn des Lebens. – ebd., S. 331-354

Von Prag habe ich nichts mehr gehört. Ist Ihnen vielleicht etwas bekannt?

ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach habe ich leider nicht mehr getroffen. Er läuft Ski in Zürs.

Heute kam ein Brief von MajaPRosenberg, Maja, 1904–1969, russ.-israel. Pädagogin, Schülerin von Moritz Schlick, verh. mit Moro Bernstein an MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue, verh. mit Josef Gramm, „sehr sehr müde“, aber das Examen glücklich bestanden. Falls Sie sie sehen, bestellen Sie bitte herzlichen Glückwunsch und Gruß. (Und das Kinderbild soll sie schicken.)

Mit besten Wünschen für schöne, erholsame und erfreuliche Ferien, und herzlichem Gruß

Ihr
R. Carnap

Lieber Herr Schlick‚

einen ganz herzl[ichen] Gruß an Sie u. Ihre liebe FamiliePSchlick, Blanche Guy, 1881–1964, geb. Hardy, verh. mit Moritz SchlickPSchlick, Albert, 1909–1999, Elektroingenieur, Sohn von Moritz SchlickPSchlick, Barbara, 1914–1988, verh. van de Velde, Tochter von Moritz Schlick. Ich bin dem allen – der ganzen Wiener Zeit – noch sehr nah. Berlin war freilich sehr anders, aber im Ganzen eine herrl[iche] Zeit u. nun ist mal wieder so ein „Lebensabschnitt“ fertig u. ein neues Kapitel fängt an. Sie haben mir einmal so sehr sehr lieb geschrieben, ich sollte „froh u. sicher“ bleiben u. das bin ich auch, vielleicht noch mehr als früher. Ich wollte das liebe kleine MajakindPRosenberg, Maja, 1904–1969, russ.-israel. Pädagogin, Schülerin von Moritz Schlick, verh. mit Moro Bernstein kriegte ein bißchen davon ab, immer ist sie müde u. so oft traurig, ich habe sehr Sehnsucht sie zu sehen. – Ich quäle mich an einem Kleinmädchen-Schulaufsatz d[er] Examensarbeit heißt u. finde m[einen] Geist d[urch]die letzten zwei Ergänzungen unsicher Faulheit verrostet. CarnapPCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnap sollte helfen, ist aber zu pädagogisch! Davon abgesehen finde ich ihn menschlicher als je, Wien bekommt ihm wohl gut.

In alter Anhänglichkeit

Ihre
Mau GrammaHsl.

Brief, msl., Anhang hsl., 2 Seiten, MS 95/Carn-13 (Dsl. RC 029-32-12); Briefkopf: hsl. Notiz. Vom Autor? msl. Berlin W 15, den 20. März 1927  /  Pension Kurfürst, Kurfürstendamm 205.


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