\brief{Walter Dubislav an Rudolf Carnap, 23. Juni 1926}{Juni 1926} %\{23.VI.1926.\} %Herrn Dr. Carnap %z.Z. \textit{Wien} XVIII, %Edelhofgasse 7. \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Ihr freundliches Schreiben vom 20.\,VI. habe ich dankend erhalten. Was den Isomorphismus betrifft, so zeigt derselbe folgendes: In dem Axiomensystem der Logik von ,,W.u.R.``\IN{\whitehead}\IN{\russell}\blockade{Whitehead und Russell?} (nennen wir es $L$.) bestehen zwischen den Grundbegriffen desselben dieselben Beziehungen wie sie in dem betreffenden, von mir angegebenen System von Sätzen der Arithmetik (nennen wir es $A$) bestehen zwischen den in ihm enthaltenen Begriffen. Mit anderen Worten: Ist aus dem System $A$ ein Satz ableitbar bezw. unableitbar, dann ist er auch aus $L$ ableitbar bezw. unableitbar und umgekehrt. $A$ und $L$ nämlich unterscheiden sich nur hinsichtlich solcher Beschaffenheiten, die nicht in Prämissen von Schlüssen benutzt werden: Sie unterscheiden sich nur hinsichtlich des Ausspruchs der in ihnen enthaltenen Behauptungen wie hinsichtlich der Realinterpretation dieses Ausspruches. Was die analytischen und synthetischen Urteile anbelangt, so bin ich seinerzeit durch folgende Überlegungen, die ich nicht mit in die Abhandlung aufgenommen habe, zu meiner Festsetzung gelangt: Wenn man einen Lehrsatz der Mathematik als ein analytisches Urteil bezeichnet und wenn selbst gründliche Logiker, die die Kantsche\IN{\kant} Benennung übernehmen, das tun, so haben sie sich m.\,E. dabei glücklicherweise durch ihr Wahrheitsgefühl leiten lassen unbeschadet der Tatsache, daß sie sich damit hinsichtlich der ursprünglichen Kant'schen\IN{\kant} Behauptungen in Widersprüche verwickeln. Wenn übrigens Kant\IN{\kant} selbst gelegentlich in unangebrachter subjektsbedingter \neueseite{} Wendung die analytischen Urteile als Erläuterungsurteile, die synthetischen aber als Erweiterungsurteile bezeichnet hat, so leitete ihn bei Aufstellung dieser Benennung der gleiche, ich möchte sagen, dunkle Instinkt für das Wahre. Wahr ist nämlich, daß derjenige der die Axiome eines Axiomensystems $S$ anerkennt und die Begründungen nur vermittelst der sog. vollständigen Schlüsse, deren erste Prämissen ausschließlich Axiome von $S$ sind, damit bereits im Leibniz'schen\IN{\leibniz} Sinne potentiell auch jeden aus $S$ sensu stricto beweisbaren Satz akzeptiert. Jeder aus $S$ beweisbare Satz ist also in Bezug auf $S$ und diejenigen Begründungen, die allein mit Hilfe vollständiger Schlüsse beizubringen sind, deren erste Prämissen ausschließlich Axiome von $S$ darstellen, ein bloßes Erläuterungsurteil für den sog. Laplace'schen\IN{\laplace} Geist. -- Weiter, aus einem Axiomensystem der Logik beweisbare Behauptungen haben ja schon einen Namen! Sie heißen eben logische Behauptungen. -- Die \uline{Form} jedes vollständigen Schlusses (das behaupte ich allerdings) gehört der Logik an, die Materie eines Schlusses aber nur dann, wenn es sich bei dem betreffenden Schlusse um aus einem \blockade{?} Logik beweisbare Behauptungen handelt. Vergleiche meine Friesstudie\IW{} Seite\,98\,ff. (Näheres hierüber werde ich in einer umfangreicheren Abhandlung ,,Zur Theorie der Begründung``\IW{} hoffentlich demnächst beibringen können). Zum Schluß noch ein kleines Problem, das vielleicht Ihr Interesse findet. Ich hoffe dasselbe mit Hilfe einer allerdings recht radikalen Umformung des Begriffes ,,Negation`` lösen zu können: Aufgabe: Welches ist die ,,Negation`` des nachstehenden Satzes: ,,Die Anzahl der Wörter, welche ich hiermit zusammenstelle, ist elf.`` Dieser Satz ist ersichtlich ein falscher, denn die betreffende Anzahl ist zehn. Faßt man als ,,Negation`` des Satzes den nachstehenden auf: ,,Die Anzahl der Wörter, welche ich hiermit zusammenstelle, ist \neueseite{} nicht elf``, so ist dieser Satz aber auch ein falscher, denn die Anzahl der in ihm enthaltenen Wörter ist elf. Dieser Satz kann also nicht die Negation des Erstgenannten sein, denn wenn ein Satz ein falscher ist, dann soll doch seine Negation ein wahrer sein. Mit dem Wunsch, daß Sie in Wien vollen Erfolg haben, bin ich} \grussformel{Ihr\\ Walter Dubislav} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869937}{RC 028-13-07}; Briefkopf: gedr. \original{Dr. Dubislav \,/\, Berlin-Friedenau \,/\, Gosslerstr. 6}, hsl. \original{23.\,VI.1926}, msl. \original{z.\,Z. Wien XVIII \,/\, Edelhofgasse 7}.}