\brief{Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 1. Mai 1926}{Mai 1926} %1.V.26. \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{ich danke Ihnen bestens für die Zusendung Ihrer Einleitung zur Konstitutionstheorie\IC{\konstitutionstheorie}. Ich habe sie mit sehr großem Interesse gelesen und finde es wunderschön, daß Sie diese Sache gemacht haben, die doch sehr notwendig ist. Auch Schlick\IN{\schlick} hat mir schon mit großer Anerkennung von Ihrer Arbeit geschrieben. Ich würde nun sehr gern das Ms.\IC{\konstitutionstheorie} lesen, aber ich bin vorerst so besetzt, daß ich noch nicht dazu komme. Hier fängt das Semester an, und außerdem bin ich noch mit dem ersten Bande meiner Philosophie der exakten Naturerkenntnis\IW{} beschäftigt, der Raum und Zeit behandelt und hoffentlich in einigen Wochen fertig ist. Dazu muß ich in der nächsten Zeit noch Vorträge halten, einen hier in Stuttgart bei einer Physikertagung\II{\stuttgartphysiker} und dann in Hamburg Ende Mai, in der philosophischen Gesellschaft\II{\philgesellhamburg}. Görland\IN{\goerland} hat mich nach dort eingeladen. Übrigens interessiert sich Görland\IN{\goerland} gerade sehr für Ihre Arbeiten und wird sich sicher sehr freuen, wenn Sie ihm mal etwas zuschicken. Also schicken Sie mir das Ms.\IC{\konstitutionstheorie} bitte einstweilen noch nicht, so gern ich es hätte. Aber wenn Sie es mir nach der Pfingstwoche zuschicken, will ich es sehr gern lesen. Sollte Ihnen aber besonders viel daran liegen, daß ich es noch vor der Drucklegung lese, so bin ich natürlich auch früher bereit. Sehr gut gefiel mir in Ihrer Einleitung der Begriff des ,,logischen Komplexes`` und die Bezeichnung solcher Dinge wie Staat als l.K.\blockade{Klasse?} Ihre Definition dieser Sache ist völlig richtig. Ich bin in \neueseite{} letzter Zeit auch sehr auf die Bedeutung dieses Begriffs gekommen und benutze gern die Bezeichnung ,,Gebilde`` für den Oberbegriff von ,,Gestalt`` und ,,Klasse``. Der Klassenbegriff allein scheint mir nicht ausreichend zu sein; wenn z.\,B. Russell\IN{\russell} das Ding als die Klasse der Empfindungen bezeichnet, so sollte man richtiger sagen: das Gebilde der Empfindungen. Denn das Ding wird doch nicht dadurch ein anderes, daß eine Empfindung ausfällt; als Klasse müßte es das aber. Daneben enthält dieser Satz noch das Außenweltproblem, es müßte richtig nicht das Ding, sondern der Begriff als Gebilde definiert werden, aber das steht noch auf einem andern Blatt. In letzter Zeit habe ich noch einen Handbuchartikel über Ziele und Wege der physikalischen Erkenntnis\IW{\reichenbachartikelhandbuch} geschrieben, der aber erst im Herbst in Druck kommt. Darin habe ich vor allem eine Theorie der physikalischen Wahrheit entwickelt, die Sie interessieren wird, weil sie eine Verbindung des Existenzbegriffs mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff darstellt. Ich bin mit herzlichem Gruß} \grussformel{Ihr\\ Hans Reichenbach} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848424}{RC 102-64-10 (Dsl. HR 016-03-03)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. H. Reichenbach \,/\, Stuttgart-Ostheim \,/\, Teckstrasse 76}, msl. \original{1.\,V.\,26}.}