\brief{Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 7. März 1926}{März 1926} %Wien, am 7.III.26. \anrede{Lieber Herr Carnap,} \haupttext{unsere letzten Briefe haben sich gekreuzt. Ich hoffe, daß Sie inzwischen ganz wieder hergestellt sind und den kommenden Frühling in voller Gesundheit genießen können. Nachdem Ihre Akten nunmehr endlich durch die Kommission\II{} gelaufen sind, findet übermorgen, am 9., die erste Sitzung in Ihrer Angelegenheit statt. In dieser Sitzung kann nach der Geschäftsordnung nur beschlossen werden, daß gegen Ihre Persönlichkeit und das gewählte Lehrfach nichts einzuwenden ist, und es besteht kein Zweifel, daß die Sache ganz glatt und schnell gehen wird. Der Beschluß wird in der Fakultätssitzung\II{} am 13. genehmigt werden, und dann muß zu Anfang des Sommersemesters eine neue Kommissionssitzung\II{} stattfinden, in welcher \sout{dann} \blockade{diese und folgende Streichung unklar, ob vom Autor} über die wissenschaftliche Qualifikation meritorisch beraten wird. In der darauf folgenden Fakultätssitzung muß \sout{dann} der Kommissionsbeschluß gebilligt werden, und dann kann alsbald das Kolloquium stattfinden. In der letzten Zeit bin ich ganz entsetzlich durch zeitraubende und leider auch durch ärgerliche und aufregende Angelegenheiten in Anspruch genommen worden, außerdem hatte ich mehrere Kopfschmerzen- und einen Grippe-Anfall; sonst hätte ich Ihnen schon viel früher geschrieben, daß die Lektüre Ihres Buches\IC{\konstitutionstheorie} mir wirklich ganz außerordentliche Freuden bereitet hat. Ich bin überzeugt, daß Ihrem Werk\IC{\konstitutionstheorie} in mancher Beziehung eine schlechthin grundlegende Bedeutung zukommt, und gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zu dieser Leistung. Dieses Urteil würde ich auch dann fällen, wenn ich sachlich nicht so weitgehend mit Ihnen übereinstimmte. In Wirklichkeit ist diese Übereinstimmung aber sehr groß, noch viel größer, als man aus der 2.\,Aufl. meiner Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre} würde schließen können, denn das Buch hätte nur durch eine radikale Umarbeitung, die aus mehreren Gründen nicht tunlich schien, auf den jetzigen Stand meiner Ansichten gebracht werden können. Daß ich zu einigen Punkten noch manches zu fragen, zu andern auch ernste Bedenken vorzu\neueseite{}bringen hätte, versteht sich wohl beinah von selbst, aber schriftlich will ich damit garnicht erst anfangen, denn das wäre eine viel zu mühselige Art, die Diskussion zu führen. Um so mehr freue ich mich darauf, mit Ihnen über alles ausführlich sprechen zu können. Überhaupt sehe ich dem kommenden Semester mit großen Hoffnungen entgegen. Das Semester beginnt um den 1.\,Mai herum, und ich nehme an, daß Sie dann auch bald da sein werden. Einige Gedankenübereinstimmungen im einzelnen waren mir besonders erfreulich, so das über die Metaphysik Gesagte. Ich habe im Juli in der Rostocker Kantgesellschaft\II{\kantgesellschaftrostock} einen Vortrag über Begriff und Möglichkeit der Metaphysik gehalten und ihn dann hier in der Philosophischen Gesellschaft\II{\philosophischegesellschaft} wiederholt. Ich werde ihn publizieren, sobald ich Zeit habe, eine Nachschrift für den Druck in Ordnung zu bringen. Sie werden dann sehen, wie vollständig unser Einverständnis ist. Übrigens haben die Ordinarien hier doch großes Interesse für Ihre Arbeit gezeigt: Reininger\IN{\reininger}, Bühler\IN{\buehlerkarl} und Gomperz\IN{\gomperz} haben auch den 2.\,Band eifrig studiert, womit nicht gesagt sein soll, daß alle drei volles Verständnis für die Tragweite solcher Untersuchungen besitzen. In meinen philosophischen Abenden\II{\schlickzirkel} sind wir mit der Lektüre des Wittgenstein\IN{\wittgenstein} \IW{\tractatus} nicht fertig geworden, sie wird also im nächsten Semester fortgesetzt werden, hoffentlich schon unter Ihrer Teilnahme. Die letzten Arbeiten von Reichenbach\IN{\reichenbach} (im Symposion\II{} \IW{} und den bayerischen Akademieabhandlungen\II{} \IW{}) haben Sie vermutlich gelesen. Ich kann mich mit Ihnen nicht einverstanden erklären. Wenn Sie mich dazu ermächtigen, so werde ich Ihr Buch\IC{\konstitutionstheorie} nach der Kommissionssitzung\II{}, nach der sicher ein Exemplar verfügbar wird, an Springer\II{\springerverlag} übergeben, der dann mit Ihnen über den Verlag korrespondieren kann. Ich schließe meine Vorlesungen am 13. Dann kommen noch viele Prüfungen und andere Geschäfte, aber bald nach dem 20. hoffe ich meine Frühlingsreise (nach irgendeiner einsamen Insel in der Adria) antreten zu können. Mit den allerbesten Grüßen und Wünschen} \grussformel{Ihr\\ M. Schlick} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870884}{RC 029-32-27}; Briefkopf: msl. \original{Wien, am 7.\,III.\,26}.}