\brief{Broder Christiansen an Rudolf Carnap, 14. Jänner 1926}{Jänner 1926} %\{14.1.26\} \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Sie definieren die Wirklichkeit durch den Systemcharakter: wirklich ist, was sich dem System der Wirklichkeit einfügen läßt, unwirklich, was sich widersetzt. Man könnte sagen: die Wirklichkeit ist ein System von wechselseitigen Garantieen. Und so ist gut verbürgt, was sich einfügt. Aber die letzte Bürgschaft wird dadurch nicht definiert. Im Grunde Zirkeldefinition. Das Erdichtete fügt sich nicht in das System der Wirklichkeit. Aber auch umgekehrt: die Wirklichkeit läßt sich nicht einfügen in das System einer Dichtung. Denn die ist ein ebensoweites System. In jeder Dichtung sind nicht nur die paar geschilderten Personen und Örter gemeint, sondern eine ganze Welt um sie ist mitgesetzt, und zwar wieder gedacht in Wechselkredit, zwar nur perspektivisch gegeben, aber auch in der Wirklichkeit steht das meiste nur perspektivisch. Ein \textkritik{jedes}\fnA{Hsl.} System \textkritik{hat in sich Recht und jedes} weist das andere ab. Bei Ihnen wird nicht verständlich, wie der \textkritik{\blockade{?}}\fnA{Hsl.} Wert des einen begründet ist. Sie bleiben das letzte Kriterium schuldig. Rückgang auf vergangene Elementarerlebnisse würde nichts nützen: der Erkennende hat ja nur seine schmale Gegenwart. \begin{center}+++\end{center} Die intersubjektive Übertragung von Aussagegewißheiten sucht sicherlich den Weg der Kennzeichen. Aber sie hat nicht die Tendenz, bis auf die Grunderfahrungen zurückzugehen. Alle Gegenstandssphären suchen ihre Kennzeichen in der physischen Welt. Auch das Eigenpsychische ,,objektiviert`` sich physisch: in den Kurven der psychographischen Meßinstrumente. \begin{center}+++\end{center} Wenn das Ich definiert wird als die Klasse der Elementarerlebnisse: ist dann für das Erleben der Relationen ein zweites Ich vonnöten? \begin{center}+++\end{center} Physische Gegenstände wachsen nicht erst dann, wenn die Qualitäten gesondert sind. Sie schlingen aus dem Continuum das und soviel in sich ein, wie sie brauchen. Die Sonderung der Qualitäten ge\neueseite{}schieht \uline{am} physischen Gegenstand. Der geht seinen ,,Qualitäten`` vorauf.\fnC{Würden mir die Quantitäten...} \begin{center}+++\end{center} Die Wesensgesetze der Gegenstandssphären sind Sollens-Gesetze. Für die physische Welt ist z.\,B. ein Sollensgesetz dieses: daß ein Raumzeitpunkt nur eine Farbqualität tragen darf. Aus diesem Gesetz wäre vielleicht abzuleiten: Der Raum muß soviele Dimensionen haben, daß für jede Qualität ein eigner Zuordnungspunkt vorhanden ist. Reicht eine ,,gegebene`` Dimensionszahl \textkritik{dafür}\fnA{Hsl.} nicht aus, so ist eine weitere Dimension hinzuzufügen. \textkritik{Das...}\fnA{Hsl.}} \grussformel{Ihr\\ Broder Christiansen} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869855}{RC 028-10-06}; Briefkopf: hsl. \blockade{mit Bleistift} \original{14.\,1.\,26}.}