\brief{Rudolf Carnap an Wilhelm und Elisabeth Flitner, 23. September 1925}{September 1925} %Wiesneck, den 23. Sept. 25. \anrede{Ihr Lieben,} \haupttext{die herzlichsten Glückwünsche für Roswitha Margarete Elisabeth\IN{\flitnerroswitha}, für beste Gesundheit ihrer selbst und der Mutter\IN{\rjlisi}. Wir freuen uns mit Euch und sind Euch nahe. Daß das Kind, nach seiner Mutter u. Großmutter genannt, nun auch Elisabeths\IN{\elisabeth} und Gretes\IN{\grete} Namen trägt, verbindet es noch enger mit uns. Die Nachricht mit der Schrimpf-Zeichnung kam zu Gretes\IN{\grete} Hochzeitstag. Die Hochzeit wurde bei Rusches\IN{\rusches} gefeiert, sozusagen im vornehmen Stil, aber nicht mit vielen Leuten, u. war doch schön. Hier wurden sie von demselben Bürgermeister getraut, wie wir vor 8 Jahren. Kirchlich haben sie sich nicht trauen lassen. Ich habe abends zu Beginn des Festes etwas gesprochen über den Sinn unsres Lebens auf der Erde u. über die in der Eheschließung geschehende Eingliederung des Einzelnen in die Kette der Generationen; vor- u. nachher hab ich Händel\IN{\rjhaendel} u. Brahms\IN{\brahms} gespielt, von Walter begleitet. Ich habe dies nicht gern übernommen, aber Grete\IN{\grete} fand keinen andern u. wollte es doch sehr gern. Am Morgen des Hochzeitstages wurde ich sehr erschreckt durch eine telephon[ische] Nachricht aus Freiburg, daß Albrecht von Liebenstein\IN{\albrecht} verunglückt sei. So stand irrtümlich in allen Zeitungen. Zum Glück konnte ich dann nach längerem telephon[ischen] Herumfragen die Wahrheit feststellen, bevor Grete\IN{\grete} die falsche Nachricht erfuhr. Albrecht\IN{\albrecht} ist mit dem Leben \neueseite{} davongekommen. Sie haben schreckliches durchgemacht, 2 Nächte im Schneesturm auf dem Gletscher zubringen müssen. Dann ist er allein mit erfrorenen Füßen zu Tal gestiegen; sein Kamerad erfroren. Es ist mit den Füßen sehr gut gegangen, es besteht Aussicht, daß kein chirurg[ischer] Eingriff nötig ist. Er ist jetzt schon in Freiburg. -- Die Absicht der Erlanger Tagung\II{} für Okt. haben wir aufgegeben. So komme ich wohl dies Jahr nicht mehr nach Jena. Es ist auch besser so; die Hab.-schrift\IC{\konstitutionstheorie} ist immer noch nicht fertig, u. ich will sie lieber nicht vor der Beendigung noch mal länger unterbrechen. In der endgültigen Textformulierung stecke ich jetzt mitten drin. Etwa \textonequarter{} ist auch schon getippt. Es wird arg lang, über 500 Schreibmasch[inen]-Seiten. Wenns dadurch auch schwerfälliger wird u. weniger gelesen werden wird, so ists doch gut, daß ich mal den ganzen Komplex der formal-log[ischen] Zus[ammen]-hänge, die der Erkenntnis u. damit aller Philosophie zugrunde liegen, ausführlich dargestellt habe, da meine weitere philos[ophische] Arbeit doch immer hieran anknüpft u. die hier gewonnenen Ergebnisse voraussetzen muß. Ich glaube, keine Überbewertung des Formalen zu begehen, wenn ich denke, daß man \uline{kein philos[ophisches] Problem} mit Sauberkeit \uline{fundamental} behandeln kann, wenn nicht zuvor das \uline{logische} Fundament einwandfrei gelegt ist. Das bezieht sich aber nicht auf alle philos[ophische] Arbeit, denn nicht jeder will u. soll fundamental, d.\,h. bis zu den Wurzeln vordringen. Die Bearbeitung bestimmter höherer (z.\,B. kulturphilos[ophischer], pädag[ogischer]) Probleme kann u. soll ruhig auf einer höheren Stufe einsetzen. Euch beiden u. den Kindern\IN{\flitnerkinder} viele herzliche Grüße} \grussformel{Rudi} \ebericht{Brief, hsl., 2 Seiten, WF; Briefkopf: hsl. \original{Wiesneck, den 23.\,Sept. 25}.}