\brief{Rudolf Carnap an Hans Reichenbach, 10. März 1925}{März 1925} %den 10. März 1925. \anrede{Lieber Reichenbach!} \haupttext{Ihr MS über Kausalität\IW{\reichenbachprag} habe ich mit großem Interesse gelesen. Problemstellung und Methode sagen mir sehr zu und scheinen mir sehr fruchtbar. Einige Bemerkungen dazu lege ich bei. Den Empfang der 30 \blockade{Symbol für M?} bestätige ich mit Dank. Im Jan. war ich ein paar Wochen in Wien. Es scheint mit den Aussichten auf Habilitation günstig zu stehen. Ich bin jetzt mit der Hab.-Schrift beschäftigt (,,Prolegomena zu einer Konstitutionstheorie der Wirklichkeit``\IC{\konstitutionstheorie}, die Ausführung einiger Gedanken aus meinem Erlanger Vortrage\IC{\rjchaosundwirklichkeit}). Ich will mich bemühen, bald fertig zu werden, um zu Beginn des S.-S. das Hab.-Gesuch einreichen zu können. Die Hab. wird aber wohl erst zu Beginn des W.-S. möglich sein, sodaß ich in diesem Jahr nicht mehr lesen werde, vielleicht auch nicht vor Ostern 1926. In Wien war es sehr interessant. Schlick\IN{\schlick} hat da einen ausgezeichneten Kreis von Philosophen und Mathematikern\II{\schlickzirkel} sich geschaffen, bei dem ich mit meinen Problemen lebhafte Anteilnahme fand. Ich trug einmal über die Raum-Zeit-Topologie auf Grund der Relationen K und Z\IC{\vortragkzsystem} vor; die Mathematiker waren erfreut, die ihnen bekannte Russellsche\IN{\russell} Logik hier auf ein sachliches Problem angewandt zu sehen. Dann wurde noch ein Abend eingelegt und ich mußte noch über die ,,Konstitutionstheorie``\IC{\konstitutionstheorie} etwas berichten, was freilich schwierig war, weil ich selbst noch nicht recht damit fertig bin. Auch diese Gedanken begegneten größerem Interesse und vor allem Verständnis, als man es sonst in philosophischen Zirkeln erwarten kann. Die Wiener Tradition einer exakter fundierten Philosophie (Mach\IN{\mach} - Boltzmann\IN{\boltzmann} - Schlick\IN{\schlick}) tut da wohl ihre Wirkung. Auch im übrigen ist Wien anziehend: viel Kultur, viel internationales Leben. Außerdem Schlick\IN{\schlick} persönlich sehr erfreulich. Die Tagung\II{} hab ich einstweilen fallen lassen. Schlick\IN{\schlick} konnte jetzt nicht und schlug den Sommer vor. Ich selbst bin jetzt sehr in Anspruch genommen, um mit der Hab.-Schr[ift]\IC{\konstitutionstheorie} fertig zu werden. Wie steht es mit Kiel? Schlick\IN{\schlick} war überzeugt, daß Scholz\IN{\scholzheinrich} es diesmal durchsetzen würde, Sie an Freyers\IN{\freyer} Stelle zu bringen, und ich wünsche Ihnen von Herzen guten Erfolg dazu. Nach Wien war ich noch drei Wochen zum Ski laufen im Engadin, das war großartig. Hinterher lag ich aber hier eine Woche mit Magengrippe zu Bett, daher bitte ich die Verspätung meiner Antwort zu entschuldigen. Ihnen und Ihrer Frau\IN{\reichenbachfrau} herzlichen Gruß,} \grussformel{Ihr\\ R. Carnap} \briefanhang{Bemerkungen zum MS ,,Die Kausalstruktur der Welt``\IW{}. In einem wesentlichen Punkte bin ich nicht ganz überzeugt worden, ohne aber direkt widersprechen zu können. Warum haben die Schlüsse in die Zukunft und in die Vergangenheit gerade die Formen der konj. Spitzgabel und Sattelgabel? M[it] a[nderen] W[orten]: mir fehlt die Begründung für die Sätze: ,,nur $A$ und $B$ zus[ammen] bestimmen $C$, das ist das Charakteristische eines Schlusses in die Zukunft`` (S.\,18) und ,,\ldots{} in die Vergang[enheit] weisenden Gabel, \ldots{} das Charakt[eristische] ist hier das vordere ,,oder`` ``\blockade{2 Mal ``}(S.\,20), und besonders deutlich: ,,Den Schluß in die Zukunft erlaubt nur die Gesamtheit aller Ursachen, aber in die Vergangenheit kann man schon aus einer Teilwirkung schließen``. Ich sehe zwar, daß i[m] A[llgemeinen] die Schlußweisen nach der Zukunft und nach der Verg[angenheit] nicht analog sind. Häufig ist der Unterschied auch so, wie Sie ihn angeben. Aber es gibt doch auch Vorgänge, die sich symmetrisch nach beiden Richtungen verhalten, z.\,B. die Molekularbewegungen im Gas bei Temperatur- und Druck-Gleichgewicht. Und es gibt auch Vorgänge, wo der Unterschied gerade der umgekehrte ist. Aus der Teilursache, daß ich ein Haus anzünde, ist die Wirkung zu erschließen: der Aschenhaufen. Um rückwärts einen Vorgang im Hause, z.\,B. die Stellung eines bestimmten Möbels, aus dem Aschenhaufen zu erschließen, muß ich die jetzige Lage und Beschaffenheit aller (oder doch sehr vieler) Teile des Aschenhaufens und der Atmosphäre kennen. Möglicherweise spielen aber in der ganzen Natur die Vorgänge dieses Typs nicht dieselbe Rolle wie die Ihres Typs, so daß im Ganzen dessen Eigenschaften überwiegen? Aber ich seh noch nicht, wie das exakt zu fassen wäre. Mir scheint, Sie müßten die Begriffe Ursache, Wirkung, Teilursache, Teilwirkung begrifflich noch genauer fassen, bevor Sie Ihre These einwandfrei aussprechen können. Ferner ist noch ein Punkt mir nicht klar geworden: das ,,Jetzt`` und der eine Querschnitt (S.\,8-11). Wenn Sie sagen, daß aus gegenwärtigen Vorgängen die Verg[angenheit] erschlossen wird, so gilt das doch wohl nur im Sinne gegenw[ärtiger] psychischer Vorgänge (Wahrnehmungsakten, Erinnerungen usw.). Gehe ich dagegen von physischen Vorgängen aus, (z.\,B. dem Satz im Geschichtsbuch) so handelt es sich stets um vergangene Vorgänge, da ja die Wahrnehmungsübermittlung Zeit beansprucht. Jedenfalls ist mir nichts im physikalischen Sinne gleichzeitiges an einem andern Ort Befindliches gegeben, also kein Querschnitt! Dies ist aber kein sachlicher Einwand, sondern nur ein Eingeständnis mangelhaften Verstehens und eine Anregung zu ausführlicherer Darstellung. Ihre Kritik des Determinismus erscheint mir sehr beachtenswert und interessant. Ich bin aber noch nicht bis zu endgültiger Stellungnahme durchgedrungen.} \grussformel{R.C.} \ebericht{Brief, msl., 1 Seite \blockade{Briefanlage mitzählen? kommt die überhaupt rein? ER unklar.} \href{https://doi.org/10.48666/848426}{HR 016-03-12 (Dsl. RC 102-64-11)}; Briefkopf: gestempelt \original{Dr. Rudolf Carnap \,/\, Buchenbach (Baden)}, msl. \original{den 10.\,März\,1925}.}