Rudolf Carnap an Hans Reichenbach, 2. April 1924 April 1924

Lieber Reichenbach‚

die Korr[ekturen] u. den RieglerBRiezler, Kurt!„Über das Wunder gültiger Naturgesetze“, Dioskuren 2, 1923 werden Sie inzwischen bekommen haben. Ich muß doch warten, bis ich Ihre ganze Arbeit vor mir habe, um die Beziehung von meiner zu Ihrer ganz überblicken zu können. Ich denke, das dann in einem Anhang noch darzustellen. Ich sehe den Unterschied in unsrer Aufgabenstellung hauptsächl[ich] darin, daß Sie von einigen Axiomen aus „aufwärts“ ins Physikalische gehen, ich dagegen abwärts ins Logische, um zu noch primitiveren Begriffen und Axiomen zu kommen, aus denen sich Ihre deduktiv ergeben. (Z. B. folgt bei mir Ihr Axiom, daß die Weltlinien stetige Linien sind, als Lehrsatz (S. 550: wlin < lin) aus 6 meiner Axiome). Das ist der Hauptunterschied. Daneben noch kleinere Abweichungen: ich nehme das Geflecht der Weltlinien als einmaliges; unveränderlich vorliegendes; Sie behandeln die möglichen Weltlinien; bringen damit m.E. eine Auffassung von Willensfreiheit in das physikal[ische] System hinein. Ich widerspreche dem nicht inhaltlich, d. h. ich nenne das nicht falsch, sondern sehe es für einen log[ischen] Schönheitsfehler an, wie Sie wissen.

Ich wollte Ihr System deshalb möglichst früh kennenlernen, um mich in Terminol[ogie] u. Begriffsbildung Ihnen anpassen zu können, habe aber gesehen, daß das doch weniger in Betracht kommt, als ich gedacht hätte, da die Arbeitsgebiete sich weniger decken als ich glaubte. Immerhin habe ich doch einiges von Ihnen (bes. nach dem Erlanger ReferatB) verwerten können, z. B. den Begriff des Erstsignals, 🕮 der dann freilich bei mir doch etwas andre Gestalt annehmen muß wegen der vorhin genannten Abwicklung. Daß Sie den Lichtsignalen eine Sonderstellung einräumen, erschien mir zuerst auch gut, u. ich habe im vorigen Jahr größere Abschnitte unter Benutzung bes. Lichtsignalbezieh[ungen] ausgebaut. Ich glaubte anfangs, die räumlichen Gebilde (Raumlinie usw.) nicht ohne sie konstruieren zu können, habe aber schließl[ich] gesehen, daß das doch geht, u. mache deshalb nun keine Unterscheidung mehr zwischen versch[iedenen] Arten von Weltlinien.

Ich bin nun endlich mit dem Tippen des 1. Teils (nur der ist einstweilen textlich ausgearbeitet) fertig u. schicke ihn Ihnen gleichz[eitig] in der Hoffnung, daß Sie in den Ferien mal Zeit finden, etwas hineinzusehen, trotz des „unnützen Krams“, dem Sie Ihre Zeit opfern müssen. Da Sie vermutlich im Semester doch nicht mehr zum Lesen kommen, möchte ich Sie bitten, mir dann das MS wieder zurückzuschicken. Ich würde mich sehr freuen, dabei einige krit[ische] Äußerungen zu bekommen über Aufgabenstellung, Lösung, Methode, oder auch irg[end]welche Einzelheiten.

Meine analyt[ische] Fragestellung machte mir soviel mit den ersten, also topolog[ischen] Begriffen zu schaffen, daß ich mich zunächst auf diese beschränken mußte. Wie ist Ihre Arbeit heute über die Möglichk[eit], auf meinem Wege zur Matrix weiterzukommen? Ich bin von dieser Mögl[ichkeit] überzeugt (im Sinne meiner Tr.Ergänzung? 2a, b, S. 4). 🕮

Nun zum Hauptpunkt: was macht die ZSIErkenntnis, Zeitschrift? Ihre Nachricht betrübte mich außerordentlich, obwohl ich immer noch annehme, daß es Ihnen irgendwo anders als bei SpringerISpringer Verlag noch gelingt. Könnte ich Ihnen jetzt Geld verschaffen, so hätte ich Ihnen gleich geschrieben, ja es ging mir einige Zeit der Gedanke nach, einen eig[enen] Verlag aufzumachen, sowohl f. d[ie] ZSIErkenntnis, Zeitschrift als auch f. Bücher unsrer Richtung. Leider haben die unruhigen Zustände Mexicos das Geschäftsleben drüben sehr gelähmt u. es herrscht dort ähnl[icher] Kapitalmangel wie hier. Als Folge davon müssen auch wir heftig sparen, sodaß ich weder zu Ihnen kommen noch Sie einschl[ießlich] Reisekosten hierher einladen kann, was ich sonst gerne tun würde. Sie schreiben von ViewegIVieweg u. von erforderlichen 500‚- M jährlich. Ist das konjunktiv oder disjunktiv gemeint? Brauchen Sie das Geld auch, wenn V[ieweg]IVieweg die ZSIErkenntnis, Zeitschrift von seinem VerlagIVieweg Verlag aus machen will, oder meinten Sie, falls V[ieweg]IVieweg es nicht macht, mit diesem Geld es selbständig machen zu können? Das Letztere käme doch sicher auch in Betracht, nur scheint mir da mehr Geld nötig. Ich werde diesen Monat einen Verwandten treffen, mit dem ich viell[eicht] ein Wort über so etwas reden kann. Der würde freilich nicht etwa das Risiko übernehmen wollen, sondern bestenfalls mir eine Hypothek geben.

Wie steht es mit den übrigen Hsg. außer Köhler? Bes. SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick und RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell? Was sagen die zu Köhlers Schritt und bleiben die der ZSIErkenntnis, Zeitschrift erhalten, auch bei anderen Verlagen? 🕮 Meine Arbeit (auch schon der vorlieg[ende] 1. Teil) scheint mir zu umfangreich f. e[ine] ZS., sei es unsreIErkenntnis, Zeitschrift, sei es eine andre; meinen Sie nicht? Ich schätze mit 60 (-70) Druckseiten. Nur, falls wir z[u] d[em] ursprüngl[ichen] Gedanken einer Broschürenreihe zurückgreifen, könnte sie da hineinkommen. Sonst würde ich mich nach einem Verl[ag] umsehen, falls ich nicht doch noch selbst einen Verlag aufmache. Glauben Sie, daß ich SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick um Vermittlung bei SpringerISpringer Verlag fragen könnte? Würde Schl[ick]PSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sich f. so eine Arbeit interessieren?

Schreiben Sie mir bald ein paar Zeilen, b[e]s[onders] wie es mit der ZSIErkenntnis, Zeitschrift steht.

Mit bestem Gruß

Ihr
R. Carnap

Brief, hsl., 4 Seiten, HR 016-28-07; Briefkopf: gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Buchenbach (Baden), hsl. 2. 4. 24.


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