Alte Schriften durchblätternd stoße ich auf die Namen HasselblattPHasselblatt, Meinhard, 1888–1966, dt. Chemiker, KurellaPKurella, Alfred, 1895–1975, dt. Schriftsteller und Kulturpolitiker, AhlbornPAhlborn, Knud, 1888–1977, dt. Arzt und Pädagoge und den Ihren – alte Schuld fällt mir ein! Sie haben mir über Anregung unserer lieben Münchner Freunde erfreulicheaFreunder-freuliche Dinge1Im Original: „Müchner Freunder-freuliche Dinge“; gemeint sind hier vor allem Franz und Hilde Roh. geschickt. Insbesondere die Abhandlung über die räumlichen GegenständeB1922@Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin, 19222Carnap, Der Raum. las ich mit großem Interesse.1Carnap, Der Raum. In gar vielem sind ich und auch meine Frau mit Ihnen darin einverstanden, wenn uns auch die Hinwendung ins Kantische nicht recht ein will! Aber der Zusammenhang von konkreter Wirklichkeit und Mathematisch-Logischem ist in vielem durchaus unserer Anschauung entsprechend – die letzten Endes an PoincaréPPoincaré, Henri, 1854–1912, fr. Mathematiker und Philosoph orientiert ist, an DuhemPDuhem, Pierre, 1861–1916, fr. Physiker und Philosoph und den anderen Konventionalisten. Freilich möchte ich gerade die Abgrenzung der allgemeinsten Sätze anders formulieren, als es bei ihnen üblich ist.
Ich würde gar gerne mit Ihnen derlei besprechen, wenn es nicht anders geht schriftlich. Fränzchen RohPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh hat in seinen nettesten Träumen eine Zusammenkunft an der österreichischen Grenze geplant‚3Neuraths Beteiligung an der Münchener Räterepublik führte (nach Verurteilung und kurzer Haft) zur Abschiebung nach Österreich und einem bis Mitte der zwanziger Jahre gültigen Einreiseverbot nach Deutschland; vgl. Sandner, Otto Neurath, 132–143, sowie Dahms, „Otto Neurath, Max Weber und die Revolution von 1919 in Bayern“. die uns alle zusammenbringen sollte2Mit der nach der Verurteilung Neuraths in München folgenden Abschiebung nach Österreich war ein (bis Mitte der zwanziger Jahre gültiges) Einreiseverbot nach Deutschland verbunden.– aber der ewig Suchende und Werdende ist immer in irgendeiner Epoche verschärfter Okkupation und so, fürchte ich, bleibt das ein ewiges überweltliches Ideal – da werden wir uns wohl mit den einfacheren Schriftzeichen behelfen 🕮{}müssen, wie ich es denn hiemit beginne!
Zunächst sende ich Ihnen ein paar opuscula zu, die etwas tastend entstanden der Abrundung noch bedürfen. Krieg und Revolution haben Klüfte gerissen, die noch nicht gefüllt sind, und es bedarf noch einiger Zeit, bis die Gelassenheit, die der Weisheit ziemt, wieder ernstlich angestrebt wird. Jedenfalls will ich hiemit das Band zu knüpfen beginnen. Meine FrauPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn und ich würden uns freuen, wenn Sie sich bei der Verknotung recht eifrig beteiligen wollten. Wer weiß, vielleicht wirds ein richtiger Teppich! Die Sitten und Bräuche der Ihnen nahestehenden Freideutschen wären geradezu einer GobelinkunstbGoblinkunst auf diesem Gebiete recht günstig.3Die Bezeichnung „Freideutsche“ bzw. „Freideutsche Jugend“ diente als Sammelbezeichnung für die deutsche Jugendbewegung; für Carnaps Engagement in dieser Bewegung siehe vor allem die Beiträge in Damböck/Sandner/Werner, Logischer Empirismus, Lebensreform und die deutsche Jugendbewegung. Vielleicht daß man RohPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh zur Mitknüpferei veranlassen könnte.
Sie wissen wohl von RohPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh, wie groß mein Interesse für die Bestrebungen ist, die in Ihrem Kreise gepflegt werden‚4Hier bezieht sich Neurath vermutlich auf die Teilnehmer der Konferenz in Erlangen im Februar 1923; jedenfalls findet sich in Neuraths Nachlass ein Exemplar eines im Vorfeld dieser Konferenz versendeten Rundschreibens („Aufforderung zur Teilnahme an Besprechungen über den Aufbau der Wirklickeit“, ON 434/E.11). Die Erlanger Konferenz wird von Neurath auch später erwähnt („Historische Anmerkungen“, S. 312 / GphmS 390). Vgl. dazu Carnap, „Intellectual Autobiography“, S. 14, sowie Thiel, „Carnap und die wissenschaftliche Philosophie auf der Erlanger Tagung 1923“, und Limbeck-Lilienau, „The first Vienna Circle and the Erlangen Conference“. aber ich komme freilich immer mehr zur Anschauung, daß eine grundsätzliche Änderung unserer Zeit auf breitester Basis vor sich geht und daß das, was wir Intellektuellen ausdenken, nur ein schwaches Element in dem ganzen Getriebe ist, dessen Wesen besser zu erkennen vor allem wichtig ist – auch für die Tat!
In der sicheren Hoffnung, bald von Ihnen zu hören, bleibe ich in vorzüglicher Hochachtung