\brief{Rudolf Carnap an Bertrand Russell, 9. September 1923}{September 1923} %\textbf{\colorbox[HTML]{00FF00}{16}} %Mexico, den 9.Sept.1923. %Herrn Prof.Bertrand Russell, \{31 Sidney Street\} %\uline{London} \{SW3.\} \anrede{Sehr verehrter Herr Professor!} \haupttext{Von Herrn Reichenbach\IN{\reichenbach} erfahre ich, daß Herr Prof. Schlick\IN{\schlick} sich an Sie wenden will mit der Bitte, als Herausgeber unsrer neugeplanten Zeitschrift\II{\erkenntnis} mitzuwirken. Ich möchte diese Bitte unterstützen. Auf der Erlanger Konferenz\II{} im März, von der ich Ihnen schrieb, entstand der Plan dieser Zeitschrift\II{\erkenntnis}. Es zeigt sich die Notwendigkeit, ein eigenes Organ zu haben für die neue, exakte Philosophie, deren Untersuchungen bisher in philosophischen, mathematischen und physikalischen Zeitschriften zerstreut waren und selbst in den philosophischen Zeitschriften unter der Menge der übrigen, ganz andre Ziele verfolgenden Abhandlungen sich oft verloren vorkamen. Die Hauptgebiete würden etwa sein: Erkenntnistheorie, Wissenschaftslehre (besonders der exakten Wissenschaften, also logische Analyse der Fundamente der Mathematik und Physik), Logik, besonders symbolische Logik, und deren Anwendung, Grundsätzliches über Axiomatik, und Anwendung der axiomatischen Methode auf irgendwelche Einzelgebiete. Um die Zeitschrift\II{\erkenntnis} auf eine breitere Basis zu stellen und um Zeugnis dafür abzulegen, daß wir in der Wissenschaft keine nationalen Schranken gelten lassen, beschlossen wir, auch Abhandlungen in englischer Sprache aufzunehmen. Bei meinem kurzen Aufenthalt in New York im Mai habe ich die Gelegenheit der gerade stattfindenden Versammlung\II{} der Amer[ican] Mathem[ematical] Soc[iety]\II{\mathematischegesellschaft} \blockade{Sigle?} benutzt, um einige Herren (Kasner\IN{\rjkasner}, Keyser\IN{\rjkeyser}, Young\IN{\rjyoung}, Huntington\IN{\huntington} u.a.) über ihre Ansicht in bezug auf den Plan der Zeitschrift\II{\erkenntnis} zu befragen, ob wir mit Lesern und besonders auch mit Mitarbeitern in Amerika rechnen dürften. Ich habe bejahende und ermutigende Antworten bekommen. Dann schrieb mir Reichenbach\IN{\reichenbach}, daß es ihm gelungen ist, Schlick\IN{\schlick} und Einstein\IN{\einstein} für den Plan zu gewinnen. Besonders Schlick\IN{\schlick} setzt sich mit Eifer für die Sache ein, und der erste Erfolg, von dem er Ihnen wohl selbst Näheres schreiben wird, ist der, daß Springer\II{\springerverlag} sich bereit erklärt hat, die Zeitschrift\II{\erkenntnis} zu verlegen. Dieser Verlag\II{\springerverlag} hat in Deutschland einen sehr guten Ruf, besonders für mathem[atische] und technische Literatur. Einige der führenden mathem[atischen] und physikalischen Zeitschriften erscheinen bei ihm. Ferner hat er Sachen von Einstein\IN{\einstein} und auch das sehr interessante Buch von Schlick\IN{\schlick}: ,,Erkenntnislehre``\IW{\schlickerkenntnislehre} verlegt. Ich zweifle nicht, daß Sie mit uns einig sind in bezug auf den Nutzen, ja die Notwendigkeit einer solchen Zeitschrift. Falls Sie nun auch Vertrauen zu dem Unternehmen haben, so würden Sie ihm durch Ihre Hilfe als Mitherausgeber einen sehr großen Dienst erweisen. Sowohl durch die positive Mitarbeit als auch durch den Klang Ihres Namens, der das Vertrauen besonders des Auslandes zu dem neuen Organ gleich wesentlich stärken und die Gewinnung von Mitarbeitern sehr erleichtern würde. Der Abriß der symbolischen Logik\IC{\symbolischelogik}, den ich im Winter fertig machen will, vielleicht mit Behmann\IN{\behmann} -- Göttingen zusammen, wird wahrscheinlich im Rahmen dieser Zeitschrift\II{\erkenntnis} erscheinen. Vielleicht auch eine Arbeit über die Topologie der Zeit, mit der ich jetzt beschäftigt bin. Es handelt sich dabei um eine Axiomatik der nichtmetrischen Aussagen über die Zeit, mit den Mitteln der symbolischen Logik. Ich gehe aus von zwei undefinierten Grundbegriffen: ,,$K$`` Koinzidenz, d.\,h. raumzeitliches Zusammenfallen zweier Weltpunkte, und ,,$Z$`` die Beziehung ,,zeitlich früher`` für zwei Punkte derselben Weltlinie (,,Weltpunkte`` und ,,Weltlinie`` im Sinne Minkowskis\IN{\minkowski} genommen). Es werden anschließend u.\,a. auch die Begriffe Weltlinie, Wirkungsreihe $[W = (K/Z)\textsubscript{po}/K Df]$, gleichzeitig, Weltzustand, Umgebung, Raumpunkt, Grenzpunkt einer gewiesen Art von Raumbereichen u.s.w. definiert, nur auf Grund von $K$, $Z$ und logischen Konstanten. Ferner werden Axiome aufgestellt, z.\,B. \blockade{symbole}; u. s. w. \neueseite{} Aus diesen Axiomen werden Lehrsätze über $K$, $Z$ und die definierten Begriffe abgeleitet (z.\,B. \blockade{symbol} ; u s. w.). Die Zahl der abgeleiteten Lehrsätze ist sehr groß; freilich habe ich auch, um die erforderlichen Aussagen über die definierten Begriffe und besonders die Überleitung zu den (topologisch-) räumlichen Begriffen machen zu können, schon mehr als 30 Axiome nehmen müssen. Zu jedem Lehrsatz gebe ich an, auf welchen Axiomen er beruht. Außer der Topologie der Zeit, die ich im Groben schon fertiggestellt habe, interessiert mich besonders die Überleitung zur Topologie des Raumes. Hierzu habe ich die Ansätze, hoffe auch, weiterzukommen, weiß aber noch nicht, wie weit das gelingen wird, da sich verschiedene Schwierigkeiten ergeben. Interessant wäre es ja jedenfalls festzustellen, ob der Begriff des physikalischen Raumes mit seinen nichtmetrischen Eigenschaften ableitbar ist allein aus jenen Grundbeziehungen $K$ und $Z$. Für diese und andre Arbeiten (z.\,B. eine erst in den Anfängen befindliche Axiomatik der Kausalität\IC{\rjaxiomatikderkausalitaet}) habe ich die symbolische Logik als ein Werkzeug von höchster Brauchbarkeit und Schärfe schätzen gelernt, das für exakte logische Analysen dieser Art ganz unentbehrlich ist. Ihre Übersicht über die wichtigsten Definitionen und Sätze des Systems\IW{} hat mir dabei große Dienste geleistet und ich bin Ihnen überaus dankbar für die Mühe, die Sie sich damit gemacht haben. Nach mir wird es auch manchem andern noch von großem Nutzen sein. Ich selbst merke nun immer deutlicher, daß ich bei meinen Untersuchungen auch weiterhin viel mit Ihrem System der symbolischen Logik arbeiten werde, und so wird der schon längst gehegte Wunsch wieder dringend, das Hauptwerk des Systems selbst zu besitzen: die ,,Principia Mathematica``\IW{\principiamathematica}. Durch die Hilfe meiner Verwandten bin ich nun in der Lage, mir diesen Wunsch zu erfüllen; und ich komme deshalb mit der Bitte zu Ihnen, ob Sie mir behilflich sein wollen, die vergriffenen Teile des Werkes antiquarisch zu beschaffen. Gleichzeitig habe ich auch noch den Wunsch nach einigen andern Werken von Ihnen und Whitehead\IN{\whitehead}; Ihr Buch ,,Our Knowledge of the External World``\IW{\russellourknowledge} besitze ich bereits; ich habe es mit großem Interesse gelesen und schon mehrfach verliehen. Ein Verzeichnis der gewünschten Bücher lege ich bei;\blockade{Liste, die beim 13.6.22 ist?} würden Sie die Güte haben, es Ihrem Verleger oder einem Buchhändler zur Erledigung zu übergeben? Die Preise weiß ich nicht. Ich entsinne mich nur, daß Sie früher einmal den antiquarischen Preis des vergriffenen Teils der Princ[ipia] Math[ematica]\IW{\principiamathematica} auf 3-5,- \pounds{} schätzten. Ich lege nun einen Scheck über 12,- \pounds{} bei. Falls er nicht genügt, um Bücher, Versandkosten, Spesen u.s.w. zu decken, so bitte ich um Mitteilung. Sollte die Schecksumme die Kosten übersteigen, so bitte ich um Rücksendung des Überschusses durch englischen Scheck. - - Nachdem ich nun mannigfaltige Eindrücke in dieser interessanten fremdem Welt gesammelt habe, kehre ich jetzt bald zu unserm alten Europa zurück. Ich habe mir zuweilen überlegt, ob es vorzuziehen sei, in der neuen Welt zu arbeiten, anstatt drüben in der alten. Aber ich kann mich noch nicht dazu entschließen, solange nicht die Verhältnisse drüben es erzwingen. Ich habe kürzlich Ihren Beitrag ,,Slavery or Self-Extermination``\IW{} im Juliheft der ,,Nation``\II{} gelesen. Die Alternative, die Sie für das künftige Schicksal Europas aufstellen, ist sehr erschütternd. Ich bin Optimist genug, um die Hoffnung immer noch nicht aufgeben zu können, daß \uline{vielleicht} die geistigen Güter Europas zwischen der Scylla des Kriegschaos und der Charybdis amerikanischer Mechanisierung lebend hindurchkommen, freilich nicht ohne Opfer und Verluste. Ich wage es nicht zu prophezeien, ich glaube nur, es hoffen zu dürfen. Ausführlich kann ich es hier nicht begründen. Werde ich einmal die Freude haben Sie in Deutschland zu sehen, um über diese und die wissenschaftlichen Fragen mit Ihnen sprechen zu können? Wenn Sie nach Deutschland reisen und zwischendurch einige Tage ausruhenden Landaufenthalt genießen wollen, machen Sie uns bitte die Freude, als Gast zu uns zu kommen. Um Sie nicht mit vielen Fehlern im Englischen zu belästigen, bleibe ich bei der Sitte, daß jeder in Seiner eigenen Sprache schreibt.} \textkritik{Mit ergebenstem Gruß u. Dank im voraus für Ihre Bemühungen \grussformel{Ihr\\ Rudolf Carnap} \briefanhang{vom 5.\,Okt. ab: Buchenbach bei Freiburg i.B., Deutschland}}\fnA{Hsl.} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/807934}{BR 1417 (Dsl. RC 102-68-23)}; Briefkopf: msl. \original{Mexico, den 9.\,Sept. 1923}, hsl. \original{31, Sidney Street}, msl. \original{London}, hsl. \original{SW 3}.}