Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 13. August 1923 August 1923

Sehr verehrter Herr Professor!

Nun ist der erste Teil unsres Aufenthaltes hier schon vorüber und viele und vielerlei Eindrücke von Landschaften mit überwältigender tropischer Vegetation oder im kahlen Hochgebirge und von Menschen in ihrem mannigfaltigen Aussehn und ihrer verschiedenartigen Einstellung zum Leben und von soziologischen und kulturellen Zuständen sind gesammelt, von denen ich Ihnen gern einmal mündlich erzählen werde. Nun wendet sich der Blick allmählich wieder zur Heimat zurück, und es drängt mich, Ihnen schon einmal einen Gruß hinüberzuschicken.

Ihre Anregungen, besonders auch während unserer mündlichen Aussprache, für die ich Ihnen sehr dankbar bin, sind bei mir nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen. Ich habe mir die Frage der Universitätslaufbahn immer wieder durch den Kopf gehen lassen; solche Dinge brauchen bei mir immer längere Zeit zum ausreifen. Ich glaube nun klar zu erkennen, daß mein Weg jetzt dorthin führen muß. Nicht nur wegen der persönlichen Vorteile: der erhöhten Anregung inmitten des wissenschaftlichen Lebens, und der Entwicklung der Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Unterricht und zu persönlich-menschlicher Beeinflussung, sondern auch ? im Hinblick auf die dort objektiv vorliegende Aufgabe der Mitarbeit an einer geistigen Institution zu ?? diese Institution vielleicht in einen schweren Existenzkampf eintreten muß. Eine solche Aufgabe als subjektive Aufgabe zu erfahren, ist ja, wenn man die erforderliche Kraft zu haben glaubt, nicht nur Pflicht, sondern einfach innere Notwendigkeit. Und wiederum gibts ja auch für die persönliche Entwicklung keine bessere Anforderung? als durch den Dienst in einer objektiven Aufgabe.

Nun kommen für den Entschluß noch die äußeren Vorbedingungen in Betracht. Ich muß mir nach meiner Rückkehr eine Vorstellung von der wirtschaftlichen Lage in Deutschland und besonders ihrer wahrscheinlichen weiteren Entwicklung zu machen suchen, da von ihr teilweise meine wirtschaftlichen Möglichkeiten abhängen. Und dann werde ich Sie auch bitten, mir zu sagen, was Sie über die Zukunft der deutschen Universitäten und allgemein des kulturellen Lebens in Deutschland unter den heutigen Umständen denken. Mancher Gedanke und manches Gespräch geht jetzt auf diese Dinge, besonders mit meinem SchwiegervaterPSchöndube, Heinrich, 1861–1927, dt.-mexik. Maschinenimporteur und Großgrundbesitzer in Mexiko, heiratete 1891 Luisa Kebe Quevedo, Vater von Elisabeth Carnap. Der ist schon in früher Jugend ausgewandert, hängt immer noch mit alter Liebe an seiner Heimat, denkt aber jetzt äußerst pessimistisch über die Zustände dort und ist oft ganz verzweifelt. Er meint, daß durch die wirtschaftliche Not auch das geistige Leben Deutschlands immer mehr darben wird und daß besonders die dem geistigen Leben dienenden Institutionen bald ihrem Untergang oder einem ganz kümmerlichen Dasein entgegengehn. Obwohl ich die Lage auch dunkel genug ansehe, glaube ich doch stärker an die Lebenskraft des Geistigen im deutschen Volke und daher auch an den Willen und die Kraft zur Unterhaltung kultureller Institutionen selbst in argen wirtschaftlichen Notzeiten. Den Ratschlägen, nach Amerika überzusiedeln, möchte ich deshalb auch vorläufig nicht folgen, solange die Gestaltung des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens in Deutschland und die eigene wirtschaftliche Lage mich noch nicht dazu zwingen. Ich meine, daß gerade, wer es wirtschaftlich noch kann, drüben mithelfen muß, solange er noch den Glauben haben kann, daß seine Arbeit einem in die Zukunft 🕮 wachsenden Bau gilt. Zu einer Umpflanzung wäre Mexico für mich gewiß nicht der rechte Boden. Von den Vereinigten Staaten dagegen habe ich, freilich nur durch einen flüchtigen, zweiwöchigen Aufenthalt, den Eindruck gewonnen, daß es in geistiger Beziehung eine fruchtbarere Zukunft verspricht, als man bei uns meist glaubt, und daher auch kein undankbarer Boden sein würde. Das Volk hat einen in jeder Beziehung jugendlichen Charakter; es ist freilich oft unreif, aber auch unbelastet, und scheint nach würdigen Aufgaben auszuschauen, die seine unverbrauchte Kraft anlocken und dann die Geldsucht von selbst beiseite drängen würden.

In New York habe ich mehrere Professoren besucht und mit ihnen auch über den auf unsrer Erlanger TagungI aufgestellten Plan einer ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift gesprochen, die auch Arbeiten in englischer Sprache aufnehmen würde und für ihre Existenz gerade auch Mitarbeiter und Leser aus den Ver[einigten] St[aaten] brauchen würde. Nachdem ich das günstige Urteil dieser Philosophen und Mathematiker über den Plan an ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach geschrieben hatte, bekam ich die Antwort, daß er mit SpringerISpringer Verlag verhandelt hat, und dieser sich bereit erklärt hat, die ZeitschriftIErkenntnis, Zeitschrift zu verlegen. Wenn das nun trotz der jetzt immer schlimmer werdenden wirtschaftlichen Verhältnisse zustande käme, so würde ich das für eine außerordentlich erfreuliche und verheißungsvolle Förderung unsrer und verwandter philosophischer Bestrebungen ansehen und würde gern an der Sache nach Kräften mitarbeiten.

Ich bin während der Reise doch viel mehr zum Arbeiten gekommen, als ich gedacht hatte. Zwischen allen Ausflügen, Besichtigungen, Besuchen, Fahrten in die verschiedenen Gegenden, Bergbesteigungen usw. habe ich doch oft halbe, zuweilen auch ganze Tage mich der Arbeit widmen können, und war auch erstaunt, durch all die Ablenkungen nichts an Konzentrationsfähigkeit eingebüßt zu haben, sondern mich immer, wenn Muße war, (mit Ausnahme einiger Tage mit bewegter See auf der Überfahrt, wo die Vitalität von Magen und Gehirn etwas gedämpft war) frisch zur Arbeit zu fühlen. Ich begann zuerst eine Axiomatik der KausalitätB1923@„Axiomatik der Kausalität“ (UCLA 03 – CM 07, CM08), 1923 und brachte zunächst die Begriffe der Zustandsbeschreibung und der kausalen Abhängigkeit zwischen solchen mit den Mitteln der Beziehungslehre in eine exaktere Fassung, als es in dem Aufsatz über Dreidimensionalität und Kausalität geschehen war; die unbefriedigende Form dieses Aufsatzes und die Menge ungelöster Fragen, die mir durch ihn aufgestoßen war, hatten den Anlaß zu dieser weiteren Behandlung der Kausalität gegeben. Hierbei ergab sich nun sehr bald die Notwendigkeit, vor der Axiomatik der Kausalität schon eine solche von Raum und Zeit zu haben. Dadurch wurde ich auf den alten Entwurf (Die log[ischen] Grundl[agen] der KinematikB) zurückgeführt, dessen Ausarbeitung Sie mir damals anempfahlen, und den ich mitgenommen hatte. Ich habe zunächst die Metrik ganz ausgeschaltet und will nur für die Topologie der Zeit und womöglich auch noch des Raumes einen axiomatischen Aufbau geben. Schon dieser wird umfangreich genug; und vor allem soll bei dieser Beschränkung zur Darstellung kommen, welche Sätze über Zeit (und Raum) ausgesagt werden können, bevor noch Zahl, Maß und Koordinaten eingeführt werden, und auf welchen Axiomen jeder dieser Sätze beruht. Durch Einführung von Maß und Koordinatensystem kommt ja ein konventionelles in gewissem Sinne willkürliches Element in das System hinein, das zwar zur Behandlung der Tatsachen auf einer gewissen Stufe von großem Vorteil ist, auf einer höheren Stufe der Abstraktion aber wieder, um zu einem willkürfreien Wissenschaftssystem zu kommen, durch irgendeine Invariantentheorie ausgeschaltet werden muß (z. B. durch die 🕮 allg[emeine] Rel[ativitäts]-Theorie, bei der in der allgemeinsten, WeylschenPWeyl, Hermann, 1885–1955, dt.-am. Mathematiker und Physiker Form alle metrischen Festsetzungen wieder eliminiert sind). Daher erscheint es mir wichtig, zu erforschen, wie weit man überhaupt ohne jene metrischen Festsetzungen auskommen kann. Diesem Versuch habe ich nun schon eine Menge Arbeit gewidmet. Von dem alten Entwurf ist fast nichts übrig geblieben als der Umstand, daß auch in diesem größeren Ausbau von nur zwei undefinierten Grundbegriffen ausgehend alle weiteren Begriffe explizit definiert werden, die zur Behandlung der Topologie der Zeit erforderlich sind. Diese beiden Grundbegriffe sind wie damals: die Beziehung der Koinzidenz (zeiträumliches Zusammenfallen zweier Weltpunkte) und die Beziehung „zeitlich früher“ für zwei Weltpunkte derselben Weltlinie, also in physikalischer Sprache: für zwei Augenblicke desselben (Materie- oder Energie-) Elementes. Im übrigen aber ist jener Entwurf in der jetzigen Ausarbeitung kaum mehr zu erkennen: anstatt der damaligen 9 Axiome habe ich allmählich mehr als 40 nehmen müssen, und die Lehrsätze, damals kaum vorhanden, machen mir mit ihrer Zahl von etwa 3000 fast bange. Sie sind vorläufig alle nur in Formeln (der symbolischen Logik) geschrieben mit Angabe des gegenseitigen logischen Abhängigkeitsverhältnisses. Die ganze Textausarbeitung fehlt noch: die Wortübersetzung des Inhalts der wichtigeren Sätze, Erläuterung ihrer Tragweite, Rechtfertigung der Wahl der Axiome und Definitionen, Darstellung des Sinnes des ganzen Gebäudes und jeder einzelnen Stufe. Wie weit mir der Aufbau der Topologie des Raumes bloß auf Grund jener beiden Beziehungen (also bloß auf Grund von Lageverhältnissen zwischen Weltlinien) gelingen wird, kann ich noch nicht absehen. Nachdem es mir gelungen ist, die Begriffe der Gleichzeitigkeit, des Weltzustandes, des Raumpunktes, einer gewissen Raumlinie und der Grenzpunkte eines gewissen Raumbereiches zu definieren, hoffe ich, weiter zu kommen. Doch erscheinen jetzt verschiedene Schwierigkeiten, und ich kann nichts versprechen.

Ich weiß nicht, ob eine solche Arbeit sich zur Habilitationsschrift eignen würde. Vielleicht werden Sie mir raten, zu diesem Zweck lieber eine Arbeit zu nehmen, die mehr philosophisch (im bisherigen Sinne) ist. Das hat ja noch Zeit, und wir werden dann einmal darüber sprechen können. Ausarbeiten möchte ich diese Sache in jedem Falle, da sie mir sehr am Herzen liegt. Das hat auch noch folgenden Grund. Die These, daß die angewandte Strukturlehre für alle rationalen Wissenschaften eine grundlegende Bedeutung hat, ja sogar eine jede solche, wenn sie eine gewisse Stufe der Entwicklung erreicht hat, ganz umfaßt, ist mir sehr wichtig. Ich glaube aber, diese These erst dann in ausführlicher Behandlung und mit Aussicht auf Verständnis darstellen zu können (bisher habe ich sie nur in meinem Erlanger ReferatB1923@1922@„Vom Chaos zur Wirklichkeit“ (RC 081-05-01), 1922 besprochen und noch nicht schriftlich dargestellt), wenn ein Beispiel vorliegt, das zeigt, wie die Anwendung der Struktur- (oder Beziehungs-) Lehre auf ein Gebiet einer empirischen Einzelwissenschaft aussieht. Soviel ich sehe, ist diese Arbeit die erste Durchführung einer solchen Anwendung. Bevor sie veröffentlicht wird, sollte freilich ein Abriß der symbolischen Logik vorliegen, den auch Sie ja sehr wünschten. Ich denke auch, das wird bald der Fall sein, zumal ja die Übersetzung von Russells BuchB, die ich inzwischen gelesen habe, durch die Erörterung aller erforderlichen Fragen die Aufgabe des AbrissesB fast auf die einfache Mitteilung der symbolischen Hilfsmittel reduziert und daher sehr erleichtert. Falls BehmannPBehmann, Heinrich, 1891–1970, dt. Mathematiker immer noch keine Zeit hat, werde ich mich doch wohl daran machen.

Unsre Rückreise haben wir verschoben, u. a. auch deshalb, weil ich am 10. Sept. die totale Sonnenfinsternis in einem nördlicheren 🕮 Teil des Landes sehen möchte. Die Astronomen werden dort auch Fixsternaufnahmen zur Nachprüfung des Einsteineffekts machen. Wir wollen am 15. Sept. von Veracruz abfahren und denken etwa am 4. oder 5. Okt. in Hamburg zu sein. Ich würde mich sehr freuen, dort von Ihnen eine kurze Nachricht vorzufinden, ob Sie in Kiel sind und ich Sie dort besuchen kann, und ob Sie Ihren Vorschlag zur Habilitation unter den gegenwärtigen schlimmen Verhältnissen aufrecht erhalten. Doch kann ich ihnen nicht versprechen, ob ich gleich kommen kann, da ich es von den dort eintreffenden Nachrichten abhängig machen muß, ob ich gleich nach Hause fahren und die Besprechung mit Ihnen auf später verschieben muß.

Inzwischen verbleibe ich

mit ergebenstem Gruße
R.C.

Adresse: R.C., Passagier I.Klasse, Dampfer „Toledo“, Ankunft 4. Okt.

von Veracruz‚

Hamburg-Amerika-Linie, Abt, Passagierdienst‚

Hamburg

Alsterdamm 25

Brief, msl. Dsl., 4 Seiten, RC 102-72-09; Briefkopf: msl. Mexico, den 13. Aug. 1923  /  Herrn Prof. Dr. Heinrich Scholz  /  Kiel.


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