\brief{Hugo Dingler an Rudolf Carnap, 30. Juli 1923}{Juli 1923} %\{30.7.23.\} \anrede{Hochverehrter Herr Doktor!} \haupttext{Zunächst lassen Sie sich herzlichen Dank sagen für Ihre freundlichen Zeilen, und herzlichen Glückwunsch zu dem sicher wundervollen Erleben, das Ihnen beschieden ist. Sie haben ganz recht: wir Deutschen können uns in unserem Gefängnis gar nicht mehr wirklich vorstellen, wie es außerhalb desselben aussieht. Nach der fleißigen und intensiven Arbeit, die Sie in den letzten Jahren bewältigt haben, wird Ihnen eine solche gründliche Umstellung des Gehirns unter so angenehmen Umständen sicher gut und Ihnen die nervliche Unterlage zu weiteren schönen Untersuchungen geben. Es ist mir immer eine Freude, von Ihnen einen Brief oder Abhandlung über unsere Probleme zu lesen, weil wir jetzt in unseren Diskussionen wirklich im Kern der ganzen Angelegenheit uns befinden, und weil es nach meinen Erfahrungen vorläufig nur recht wenige Menschen gibt, die sich darüber klar sind, worum es sich bei der Sache eigentlich handelt. Ihre letzte Abhandlung\IC{} in den Kantstudien\II{\kantstudien} hat hierin sicher Vielen ein Licht aufgesteckt, und ich habe auch schon von verschiedenen Seiten erfreute Äußerungen darüber gehört. Herr Frischeisen-Köhler\IN{\frischeisen} hat mich aufgefordert, ein paar Worte zu den Problemen zu sagen und es wird mir von hohem Interesse sein, zu hören, was Sie zu meinen natürlich nur äußerst kurzen Darlegungen meinen. Hoffentlich ist nun, wenn Sie zurückkommen, die 2.\,Aufl. meiner ,,Grundlagen der Physik``\IW{\grundlagenphysik} endlich fertig, in der ich einige Punkte endlich näher auszuführen Gelegenheit hatte, die mir sehr wichtig sind, und von denen ich mir eine wesentlich vertieftere Begründung meiner Auffassung verspreche. Die kritische Bemerkungen Ihres Briefes waren mir natürlich wie immer von größtem Interesse. Wenn ich kurz darauf eingehen darf, so möchte ich zurerst mich dem zweiten Punkte zuwenden. Ob sich das von Ihnen erwähnte Blech nicht während des Standpunktwechsels geändert hat, das bedarf natürlich einer Überlegung. Ich bediene mich dabei in folgender Weise der Realität: Wir vermögen phänomenologisch die Konstanz von Dingen unmittelbar dadurch zu erkennen, daß wir bemerken, daß an ihm überhaupt keine Veränderung vor sich geht. Diese Tätigkeit bedarf überhaupt keiner Messung, sondern muß jeder solchen vorausgehen. Sie beruht auf dem, was die psychologische Unterbauung später als Selbstvertrauen des Gedächtnisses, als unmittelbare Relationsurteile erklärt. Was aber beim Beginn des Aufbaues der theoretischen, synthetischen Wissenschaft einfach als Gegebenheit vorhanden ist und benutzt wird. Man braucht diese Fähigkeiten schon um die einfachsten praktisch-wissenschaftlichen Tätigkeiten, welche bei jeder wissensch[aftlichen] Handlung vorausgesetzt werden müssen, auszuüben, z.\,B. schon um einen von mir gebildeten Begriff geistig festzuhalten, oder eine aufgeschriebene Überlegung wieder lesen und verstehen zu können. Aufgrund dieser Fähigkeiten kann ich die ,,Erfahrung`` machen -- es ist diese rein Art nach meiner Überzeugung die einzige Art von ,,Erfahrung``, die man machen kann -- daß sich unter meinen gewohnten konstanten Umständen hic et nunc die beiden Seiten meiner Fläche nicht unterscheiden lassen, sie also eine Ebene ist.-- Zu Punkt 2. möchte ich nur sagen, daß es nach mir nicht nur eine, sondern beliebig viele eukl[idische] Maßsetzungen an sich gäbe, daß aber eukl[idische] Maßsetz[ungen] plus unserer unmittelb[aren] Relationsurteile nur eine liefern. Das scheint mir denn alles befriedigend zu erklären. Ich hoffe, daß in einigen Wochen die 2.\,Aufl. meiner ,,Grund[lagen] d[er] Physik``\IW{\grundlagenphysik} herauskommt, die völlig umgearbeitet ist, und die noch manches klärende enthalten wird, wie ich glaube. Verzeihen Sie, daß meine Antwort in dem sehr angespannten Semesterschluß sich etwas verzögerte. Aber das ist jedes Jahr so, daß sich am Ende des Sommersemesters alles zusammendrängt, sodaß man kaum weiß, wie durchzukommen. -- Nun nehmen Sie nochmals alle guten Wünsche zu Ihrer Reise und seien Sie bestens gegrüßt von Ihrem} \grussformel{sehr ergebenen\\ Hugo Dingler} \briefanhang{Ihrer w[erten] Frau Gemahlin\IN{\elisabeth} bitte ich mich bestens zu empfehlen. München, 30.7.23. Neustätterstr.1} \ebericht{Brief, msl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/869882}{RC 028-12-01 (HD, Dsl. RC 115-04-21)}; Briefkopf: hsl. \original{30.\,7.\,23}.}