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Hochverehrter Herr Doktor!
Zunächst lassen Sie sich herzlichen Dank sagen für Ihre freundlichen Zeilen, und herzlichen Glückwunsch zu dem sicher wundervollen Erleben, das Ihnen beschieden ist. Sie haben ganz recht: wir Deutschen können uns in unserem Gefängnis gar nicht mehr wirklich vorstellen, wie es außerhalb desselben aussieht. Nach der fleißigen und intensiven Arbeit, die Sie in den letzten Jahren bewältigt haben, wird Ihnen eine solche gründliche Umstellung des Gehirns unter so angenehmen Umständen sicher gut und Ihnen die nervliche Unterlage zu weiteren schönen Untersuchungen geben.
Es ist mir immer eine Freude, von Ihnen einen Brief oder Abhandlung über unsere Probleme zu lesen, weil wir jetzt in unseren Diskussionen wirklich im Kern der ganzen Angelegenheit uns befinden, und weil es nach meinen Erfahrungen vorläufig nur recht wenige Menschen gibt, die sich darüber klar sind, worum es sich bei der Sache eigentlich handelt. Ihre letzte Abhandlung
Die kritische Bemerkungen Ihres Briefes waren mir natürlich wie immer von größtem Interesse. Wenn ich kurz darauf eingehen darf, so möchte ich zurerst mich dem zweiten Punkte zuwenden. Ob sich das von Ihnen erwähnte Blech nicht während des Standpunktwechsels geändert hat, das bedarf natürlich einer Überlegung. Ich bediene mich dabei in folgender Weise der Realität: Wir vermögen phänomenologisch die Konstanz von Dingen unmittelbar dadurch zu erkennen, daß wir bemerken, daß an ihm überhaupt keine Veränderung vor sich geht. Diese Tätigkeit bedarf überhaupt keiner Messung, sondern muß jeder solchen vorausgehen. Sie beruht auf dem, was die psychologische Unterbauung später als Selbstvertrauen des Gedächtnisses, als unmittelbare Relationsurteile erklärt. Was aber beim Beginn des Aufbaues der theoretischen, synthetischen Wissenschaft einfach als Gegebenheit vorhanden ist und benutzt wird. Man braucht diese Fähigkeiten schon um die einfachsten praktisch-wissenschaftlichen Tätigkeiten, welche bei jeder wissensch[aftlichen] Handlung vorausgesetzt werden müssen, auszuüben, z. B. schon um einen von mir gebildeten Begriff geistig festzuhalten, oder eine aufgeschriebene Überlegung wieder lesen und verstehen zu können. Aufgrund dieser Fähigkeiten kann ich die „Erfahrung“ machen – es ist diese rein Art nach meiner Überzeugung die einzige Art von „Erfahrung“, die man machen kann – daß sich unter meinen gewohnten konstanten Umständen hic et nunc die beiden Seiten meiner Fläche nicht unterscheiden lassen, sie also eine Ebene ist.– Zu Punkt 2. möchte ich nur sagen, daß es nach mir nicht nur eine, sondern beliebig viele eukl[idische] Maßsetzungen an sich gäbe, daß aber eukl[idische] Maßsetz[ungen] plus unserer unmittelb[aren] Relationsurteile nur eine liefern. Das scheint mir denn alles befriedigend zu erklären.
Ich hoffe, daß in einigen Wochen die 2. Aufl. meiner „Grund[lagen] d[er] Physik“
sehr ergebenen
Hugo Dingler
Ihrer w[erten] Frau Gemahlin
München, 30.7.23.
Neustätterstr.1
Brief, msl., 1 Seite, RC 028-12-01 (HD, Dsl. RC 115-04-21); Briefkopf: hsl. 30. 7. 23.