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Mein Lieber‚
gestern sind wir von einmonatiger Reise nach Norden u. Westen wieder „nachhause“ gekommen. Wir haben ein paar sehr schöne Wochen auf einem Gut im tieferen, wärmeren Lande des Westen zugebracht, täglich herumgeritten, geklettert, geschwommen, Zucker- u. Reisfelder u. Kaffeeplantagen besehen u. so ein zwar ländlich-stilles, aber doch bewegtes Leben geführt, u. mancherlei Gestalten u. Farben gesehen, an seltsamen Indianertypen, Schmetterlingen, Orchideen, einem beschneiten Berg u. einem Vulkan. Auf diesen, den wir täglich als seltsam farbigen Kegel vor Augen hatten, bin ich schließlich auch noch gestiegen, u. hab schaudernd in den Krater hinabgeschaut. In der Regenzeit soll man den Aufstieg nicht machen, aber ich kann ja nicht bis zur Trockenzeit bleiben u. war froh, einen jungen Deutschen zu finden, der es mit unternahm. Freilich haben uns tolle Gewitter u. Nebel die Sache schwer gemacht. Aber da wir mit Maultieren u. Zelt auf 1/3 der Höhe kommen konnten, so gings. Du findest ihn auf dem Atlas als Volcan de Colima, ich glaube 3800 m hoch.
Als uns der Nebel mal einen Durchblick gönnte, sahen wir ein herrliches Land unter uns, Berge u. Flächen dicht bewachsen, jetzt nach den Regenwochen. In der Ferne ein deutlicher Streifen des Stillen Ozeans erregte unsern Wunsch, ihn von nahem zu sehen. So fuhren wir für ein paar Tage ins heiße, tropische Küstenland hinab. Unglaublich dichte Wälder, durch die die Wege geschlagen sind
Sehr schön sind die Palmen, besonders die hohen Kokospalmen. Sie haben etwas majestätisches an sich. Die Waldbäume dagegen verschmelzen mit allem Waldgewächs zu einer unentwirrbaren Masse. Nur diese Masse sieht man, ein unendliches Geflecht, wie die tausendfache Vergrößerung eines grünen Faserfilzes; der Begriff der Einzelpflanze erscheint da als seltsame Abstraktion durch wissenschaftl[iche] Zerlegung dieser Masse.
Schließlich noch ein Bad in der Brandung, u. ein sehnsüchtiger Blick über das Meer hinaus, unter dem so viele ungesehene Welten liegen: ein heiliger Fudschijama, u. um ihn Mönche, Faßkäfer u. Maler, ein Gartenland mit Fischern u. Glockenspielständerschnitzern, ein Land mit Wundern der Kraft u. der Ruhe der Seele; u. ein weites Inselmeer im Süden, aus dem uns Märchen von glückseligen Menschen kommen. –
Mexico ist ein seltsames Land. Es ist schwer zu sagen, ob es Aussicht hat, einmal Kultur tragen zu können. In naher Zukunft wohl nicht. Aber da reiche Bodenschätze u. anscheinend auch die biolog[ische] Kraft des Volkes noch nicht verbraucht sind, so kann in
Die Zahl der Mexikaner, die ich kennengelernt habe, ist verhältnismäßig sehr klein; teils infolge der Sprachschwierigkeiten, teils infolge nur geringer Neigung zu weiteren Bekanntschaften. Trotzdem kann ich schon sagen, daß ich glaube, daß ich mich bei dauerndem Aufenthalt hier sehr unbefriedigt fühlen würde. Den Mangel an Kultur erschließe ich weniger aus den Menschen, als aus dem objektiv vorliegenden: es gibt keine bedeutende Schöpfung auf irgendeinem geistigen Gebiet, weder in Literatur, noch im Drama, noch in Baukunst, Musik,
So kommt es, daß die Suggestionen meines Schwiegervaters
Mit den Ver[einigten] Staaten verhält es sich ganz anders. Zwar ist dort auch weniger kulturelle Atmosphäre als in Deutschland, aber so viel Frische und unverbrauchte Kraft, auch für Geistiges, daß man zu optimistischem Urteil f. d[ie] Zukunft geneigt wird. Auch die Gegenwart schon wirkt anziehend, diese Menschen, die meist innerlich freier u. leichter in Bewegung zu setzen sind, als wir, die wir meist durch irgendwelche „Komplexe“ belastet u. verbogen herumlaufen, allerdings dann auch differenzierter u. feinfühliger sind. Die Amerikaner sind eben jünger, so kann man die Züge, die ich meine, wohl am besten zusammenfassen; oft geradezu kindlich; aber in vielem dadurch sympathischer. Sie erinnern an Wickersdorfer Tertianer: einstweilen stehen Auto u. Fußball im Vordergrund des Interesses, dabei feine, frische, gern vertrauende Kameraden, bei ihrer Beweglichkeit und Begeisterungsfähigkeit denkt man, daß sie später auch
Dieselbe Altersstufe scheint der Mexikaner zu haben, aber er ist nicht so frei und offen, sondern gehemmt. Oft hat man den Eindruck eines besser angelegten, aber verdorbenen Charakters. Oft aufrichtig freundlich, oft gehässig, sehr zum streiten u. zu Haßgefühlen geneigt. Die länger hier ansässigen Ausländer entwickeln sich in der gleichen Richtung. Eine Erklärung für das Ganze weiß ich nicht. Bei den Mexikanern nahm ich an, daß es der Einfluß der Unterdrückung durch die Spanier sei. Ein Deutscher sagte mir dagegen, es sei der Einfluß des Klimas. Da bin ich skeptisch. Jedenfalls kannst Du Dir denken, welch abstoßenden Eindruck diese Atmosphäre der häufigen Spannungen, Reibereien, Zwistigkeiten u. gegenseitigen Vorwürfe auf uns macht. Auch ein Grund, warum wir nicht in einem solchen Lande leben möchten. Wenn früher Elisabeth
Vielleicht sind wir gegen den 7. Okt. wieder in Wiesneck.
Zum Arbeiten bin ich erstaunlicherweise doch öfter gekommen. Man kann ja nicht immer nur herumfahren u. -reiten u. anschauen. Auch seelisch würde ja eine dauernd bloß rezeptive Einstellung lähmend wirken. Ich hatte angefangen mit einer Axiomatik der Kausalität
Gerade vor der Abreise war ich noch bei Scholz
Was Du über Deine Pläne schreibst, interessiert mich sehr. Ich denke, mündlich bald (im Okt.!) Näheres darüber zu hören. Deine Antrittsvorles[ung] wartet in Wiesneck auf mich. Inzwischen hat die Mutter
Zu Deinen beiden Fragen über Darlehensbedingungen: Rückzahlung eilt zunächst nicht, wenn wirs später nötig haben u. Du zahlen kannst, einigen wir uns darüber; Zinsen kommen nicht in Frage. – Es ist möglich, daß ich Dir nach unserer Rückkehr gut noch mehr geben kann. Augenblicklich sind unsre zukünftigen Geldverhältnisse noch unbestimmt; auch den Kieler Plan muß ich davon abhängig machen. –
Ich möchte Dich bitten, diesen Brief (die ersten 3 Blätter auch der Mutter
Von der Entwicklg. der Dinge in Deutschland berichten in den letzten Tagen die Zeitungen immer schlimmeres. Seit den ersten Tagen des Ruhrkrieges bin ich fast noch mehr betrübt über das, was Deutschland tut u. unterläßt, als über das, was es leidet. Daß der Ruhrkrieg von Anfang an als verloren gelten mußte, hast Du vermutlich ebenso angesehen wie ich. Meine Auffassung, die Du vielleicht nicht teilst, daß er vermeidbar gewesen wäre, läßt mich die gegenwärtigen u. drohenden Geschehnisse nur mit noch größerer Bitterkeit ansehen. Ich vertehe die Amerikaner, daß sie sich kopfschüttelnd von Deutschland abwenden; ich glaube, man kann ihnen kaum einen Vorwurf daraus machen; auf Gleichgültigkeit oder Voreingenommenheit gegen die früheren Feinde oder Nachwirkungen der Kriegspropaganda gründet sich ihre Haltung nicht (wie man in Deutschland häufig glaubt).
Es ist auch in dieser Beziehung ein Jammer, daß infolge der Valutaschwierigkeiten so wenige gebildete Deutsche ins Ausland kommen können. –
Nun bin ich doch in die polit[ische] Frage hineingeraten, die ich vermeiden wollte. Lassen wir sie, bis wir einmal mündlich zu einem Verstehen kommen. –
Von mir u. Elisabeth
Dein
Carnap
Brief, hsl., 8 Seiten, WF; Briefkopf: hsl. Mexico, 27. VII. 23.