\brief{Rudolf Carnap an Hans Reichenbach, 20. Juni 1923}{Juni 1923} %Mexico, 20.6.23. \anrede{Lieber Reichenbach!} \haupttext{Meinen Brief von unterwegs v. 8.\,5. haben Sie hoffentlich trotz seiner Dicke wohlerhalten bekommen mit den gewünschten Inhaltsangaben meiner Erlanger Referate\IC{} u. den ermutigenden Auskünften der New-Yorker Professoren über den Plan der Zeitschr[ift]\II{\erkenntnis} bzw. der Broschürenreihe\II{}; als solche sollte die Sache mindestens zunächst einmal am besten vom Stapel gelassen werden. Entschuldigen Sie das Strafporto, das ich Ihnen verursacht habe; ich erfuhr zu spät, daß man mich über das Porto falsch unterrichtet hatte. Mir wird nun immer klarer, daß die Sache gemacht werden muß. Die Richtung, die wir verfolgen, hat entschiedene Bedeutung f. d[ie] Zukunft der Wissenschaft. Und da muß je eher, je besser, eine Stelle geschaffen werden, wo das Zusammengehörige zusammen sichtbar wird, eine Fahne zur Sammlung für Mit- und Nachschaffende. Auch jetzt, wo nach den Kursnotizen zu schließen, die wirtschaftl[iche] Lage in Deutschl[an]d schlimmer als je werden wird, dürfen wir uns nicht abschrecken lassen. Zumal, wenn wirs gleich international gestalten. Damit das möglichst bald verwirklicht wird, wärs gut, wenn ich noch während meines Hierseins Nachricht von Ihnen bekommen könnte, daß Springer\II{\springerverlag} die Sammlung verlegen will; dann würde ich mich sofort an Huntington\IN{\huntington}, Kasner\IN{\rjkasner} u.a. wenden mit der Bitte um baldige Lieferung eines M.S. Falls Ihre Arbeit auch in der Sammlung erscheint, wäre sie als Werbemittel sehr \neueseite{} wichtig. In diesem Falle möchte ich Sie bitten, mir nicht nur 1, sondern 2 Ex. in Korrekturbogen zu schicken. Es tut mir leid, daß ich nur immer aus der Ferne anstachle, Sie aber bei Ihrer praktischen Vorbereitungsarbeit ganz im Stich lassen muß. Sie werden deshalb erlauben, daß ich wenigstens zu Ihren Auslagen für Schreibarbeiten, Korrespondenz, Reise nach Berlin zu Einstein\IN{\einstein} u. Springer\II{\springerverlag} usw. ein Scherflein beisteuere. Ihre Arbeit\IW{} erwarte ich sehnlichst. Ich bin nämlich jetzt mit einer sehr verwandten Sache beschäftigt. Ich bin bisher trotz aller Reisen, Ausflüge, Besuche, Besichtigungen, Feste usw. in lieblichstem Durcheinander doch immerhin mehr, als ich gedacht hatte, zum Arbeiten gekommen. Es handelt sich um eine Strukturlehre der Weltlinien\IC{}, oder in Ihrer Sprache: Axiomatik der Topologie der Zeit. Im Anschluß an den alten Rundschr[eiben] Entwurf, den Sie wohl in Erlangen gesehen haben. Ich sehe, daß ich da etwas herauskriege, das nicht in Konkurrenz zu Ihrer Arbeit\IW{} tritt, \sout{aber} sondern mir eine wichtige Ergänzung dazu zu sein scheint. Es verhält sich zu Ihrer Arbeit\IW{} etwa, wie Russells\IN{\russell} Logik zur Mathematik, z.\,B. der Arithmetik. Während die Ar[ithmetik] von Zahlen u. zwischen ihnen bestehenden Axiomen ausgeht, fängt R[ussell]\IN{\russell} weiter vorn an: von rein log[ischen] Grundbegriffen u. Axiomen ausgehend kommt man zu komplizierten Begriffen u. Lehrsätzen, die die Grundbegr[iffe] u. -sätze der Ar[ithmetik] bilden. So gehe ich von Axiomen (in zieml[ich] großer Zahl) aus, die nur Begriffe der Logik (besonders der Beziehungslehre) enthalten, u. gelange schließlich zu komplizierten, abgeleiteten Sätzen, die (teilweise) Ihren Axiomen \neueseite{} entsprechen. Damit will ich also die log[ische] Analyse Ihrer u. anderer, von vornherein schon physikalischen Sätze leisten. Da ich bemerke, daß die Sache sehr umfangreich wird, will ich mich auf die Topologie der Zeit beschränken, u. zwar noch etwas enger, als Sie diesen Begriff nehmen. Es handelt sich bei mir um die Stufe vor Einführung von Zahl und Maß; also gibt's auch noch keine Zuordnung der reellen Zahlen zu den Punkten einer Weltlinie. Immerhin ist die Beziehung zu Ihrer Arbeit sehr eng; und ich will mich bemühen, keine Divergenzen zu schaffen, die nicht notwendig sind (d.\,h. auf Verschiedenheit unsrer Auffassung beruhen), um dem Leser die Erkennung des Zusammenhanges beider Arbeiten nicht unnötig zu erschweren. Auch glaube ich, daß mir manches zu Hilfe kommen wird, was bei Ihnen schon als gewonnene Erkenntnis fertig vorliegt. Um dieser Arbeit willen, die ich im Winter fertig zu kriegen hoffe, liegt mir auch persönlich an baldiger Verwirklichung unseres Planes. Denn wenn sie wird, was mir der jetzt in Arbeit befindliche Entwurf zu versprechen scheint, so glaube ich, daß Sie (den ich mir als Herausgeber der Sammlung\II{} vorstelle) sie gern darin aufnehmen werden. Vorher wird aber der Abriß der symbol[ischen] Logik\IC{\symbolischelogik} erscheinen müssen, denn sowohl jene Arbeit als auch eine andre (Axiomatik der Kausalität\IC{\rjaxiomatikderkausalitaet}), die ich angefangen habe, arbeiten sehr viel mit Formeln. \neueseite{} Ich hoffe jetzt schon [auf] einen Brief von Ihnen unterwegs. Gnade Ihnen der Himmel, daß er nicht von Resignation Ihrerseits oder Absage aller in Betracht kommenden Verleger spricht! Unsere Rückreise verschiebt sich. Wir werden frühestens Anfang Sept. abreisen, vielleicht erst Mitte oder 20., also wahrsch[einlich] erst im Okt. drüben sein. Leider hat sich nun die Nachricht der hiesigen Zeitungen, daß Einstein\IN{\einstein} zur Sonnenfinsternis am 12.\,Sept. hiersein werde, nicht bestätigt (die mexikan[ische] Regierung\II{\regierungmexiko} hatte ihn eingeladen). Es wäre ja erfreulich u. interessant gewesen, hier einige Zeit mit ihm zusammen zu verleben. Ob ich mich der deutschen Expedition (die im Norden Mexikos beobachten wird) anschließen werde, weiß ich noch nicht. Es sind Ludendorff\IN{\ludendorffhans} u. Kohlschütter\IN{\kohlschuetter} aus Potsdam, Schorr\IN{\schorr} u. \blockade{Auslassung} aus Hamburg. Falls Sie jemand davon kennen, schreiben Sies mir bitte. Vielleicht reise ich auch vor der Finst[ernis] schon weg. Es ist nicht ausgeschlossen, daß ich vorher nochmal nach den Ver[einigten] Staaten komme (vielleicht Berkeley-University, Californien\II{\berkeley}). Falls Sie also im Sept. eine Konferenz machen, wäre ich sehr betrübt, falls da gerade Physik das Hauptthema wäre; denn dazu hätte ich manches zu sagen. Mit bestem Gruß, auch an Ihre Familie,} \grussformel{Ihr\\ R. Carnap.} \ebericht{Brief, hsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848416}{HR 016-28-11 (ksl. Abschrift RC 102-64-07)}; Briefkopf: hsl. \original{Carnap, e.\,v. E. Schöndube \,/\, Mexico D.F. \,/\, Apartado p.\,756 Mexico, 20.\,6.\,23 \,/\, Via New York}.}