\brief{Rudolf Carnap an Hugo Dingler, 9. Mai 1923}{Mai 1923} %Auf der Bahn von New York nach Mexiko, 9.5.23. %Herrn Prof. Hugo Dingler %\uline{München.} \anrede{Sehr verehrter Herr Professor!} \haupttext{Schon lange fühle ich mich in Ihrer Schuld, u. will Ihnen nun endlich meinen herzlichen Dank aussprechen f. die freundliche Zusendung Ihrer interessanten Schriften ,,Problem des absol[uten] Raumes``\IW{} u. ,,R.-T. u. Ökonomieprinzip``\IW{} u. Ihr freundliches Schreiben im Februar. Obwohl ich in den Ihnen bekannten Punkten von Ihrer Auffassung abweiche, war die Lektüre mir doch anregend u. lehrreich; unter welchen Voraussetzungen ich auch Ihren Standpunkt für den richtigen halte, habe ich ja inzwischen in dem kl[einen] Aufsatz ,,Über die Aufgabe der Physik``\IC{\aufgabederphysik} ausgesprochen. Wie es häufig geht, verschob ich die Antwort auf Ihre Schriften immer, um sie dann umso ausführlicher machen zu können. Schließlich kamen dann die Vorbereitungen meiner Reise nach Mexico dazwischen, wohin ich mit meiner Frau\IN{\elisabeth} u. dem jüngsten Kinde\IN{\johannes} für ein paar Monate zum Besuch der Schwiegereltern\IN{\schoendubes} fahre. Durch das Lesen Ihrer Schriften u. andrerseits auch wohl durch meine Aufsatz sind uns, glaube ich, jetzt unsre Differenzen im Ganzen gegenseitig klar, sodaß wir einander keine ausführlichen Erwiderungen mehr zu schreiben brauchen. Ein paar Bemerkungen möchte ich aber nach den Notizen, die ich bei mir habe, noch schreiben, zur Verdeutlichung meiner Auffassung, vielleicht auch zur Klärung, falls ich Sie nicht richtig verstanden habe. \neueseite{} Sie schreiben in ,,RT u. Ök-P.``\IW{} S.\,49: ,,\ldots{}daß uns die euklid[ische] Geom[etrie]\ldots{}die Grundgebilde völlig eindeutig liefert``. An diese Ein\blockade{?} habe ich früher auch geglaubt (ich glaube auch, in der Dissertation\IC{\rjdissertation} ausgesprochen), bin aber inzwischen zu andrer Auffassung gekommen. Gehen wir mit einer bestimmten Metrik, sagen wir: der euklidischen, an die Dinge heran, indem wir von einer Maßsetzung, die die eukl[idische] Geometrie noch nicht befriedigt, durch Ex\blockade{?} schrittweise weitergehen, u. denken wir uns den Prozeß zu Ende geführt, so kommen wir (wenn wir das mehrmals machen, oder verschied[enen] Experimentationen es machen) zu verschiedenen Maßkörpern. Die Frage ist nun: sind diese alle notwendig äquivalent. D.\,h. ergeben sie alle die gleiche Maßsetzung, oder nicht? Z.\,B. sind die Meßapparate der heutigen Physik (wenn wir sie mal für einen Augenblick als schon ideal fehlerfrei denken) gewiß äquivalent, sie verkörpern alle die gleiche Maßsetzung, nämlich die, nach der z.\,B. die Erdoberfläche eine Kugel ist, u. ferner die Länge des \blockade{?} in \blockade{?} 1/40 \blockade{?} des Umfangs dieser Kugel beträgt, usw. Nach Ihrer Auffassung, wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind nun \uline{alle} Meßkörper, die die euklid[ische] Geom[etrie] befriedigen, notwendig äquivalent; es gäbe also nur 1 eukli[dische] Maßsetzung. Das ist aber nicht der Fall. Nach der Lektüre Hans Setzes\IN{} \IW{} fand ich als Gegenargument eine Maßsetzung\fnC{Die Aufzeichnungen habe ich nicht mit hier.}, die (nicht etwa nur irgendeine bestimmte Fläche, sondern) den ganzen Raum euklidisch macht, aber sich dadurch handgreiflich als nicht-äquivalent mit der physikalisch üblichen Maßsetzung manifestiert, daß für sie die Erdoberfläche eine (also hier natürlich euklidische) Ebene wird. [Bei Gelegenheit dieses Beispiels möchte ich Sie auf \neueseite{} \blockade{Randnotizen} ein kl[eines] Versehen aufmerksam machen, das aber sachlich nicht stört. Sie schreiben S.\,73, ich gäbe ein Beispiel f. d[ie] Möglichkeit, die Erdoberfl[äche] als euklid[ische] Ebene aufzufassen; ich \blockade{nehme} sie aber als \uline{sphär[ische]} Ebene. An sich ist das ja gleichgültig, da ich das natürl[ich] auch hätte tun können. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, um zu verhüten, daß Sie mein damaliges Beispiel mit der vorhin genannten neuen Maßsetzung verwechseln.] Diese Maßsetzung scheint mir besonders Ihren Satz S.\,49 zu widerlegen: ,,\ldots{}Messung mittels des durch die einseitige eukl[idische] Geom[etrie] eindeutig (?!) festgelegten starren Körpers. Daß sich die Erdoberfl[äche] dabei nicht (notwendig nicht?!) als Ebene erweist ist hinreichend bekannt.`` -- Ferner ist mir bisher nicht überzeugend Ihr Nachweis S.34-4\unl{} daß wir ,,durch Beziehung auf uns`` zur eindeutigen Geom[etrie] kommen. \fnAmargin{Hsl. \original{\unl{} Relationsurteil}} Ich verstehe nicht, wie entschieden werden kann, ob ,,die beiden Seiten einer Fläche nicht unterscheidbar sind``, wenn nicht \uline{vorher }Meßnormkörper festliegen. Vielleicht denken Sie sich den Fall so: wir haben ein Blech u. stellen durch Beschauen von beiden Seiten fest, daß beide Seiten rein \blockade{?}mäßig gleich sind. Da würde ich aber entgegnen, daß doch geprüft werden muß, ob sich das Blech \fnAmargin{Hsl. \original{Das sehen wir auch innerhalb d[er] Genauigkeit}} nicht während des Standpunktwechsels geändert hat, u. dazu sind eben Maßnormkörper nötig. Nach der Evidenz dieser Widerlegung verneinte ich, daß ich in diesem 2. Punkte Ihre Meinung nicht ganz richtig erkannt habe. \neueseite{} In den Ver[einigten] St[aaten] sind wir nicht lange gewesen. So habe ich zwar nur einen flüchtigen, aber doch lehrreichen Einblick getan. Wir Deutschen können uns kaum mehr vorstellen, was ein nicht durch Krieg verarmtes Volk alles schaffen kann. Im Sept. werde ich wahrsch[einlich] heimkommen. Vielleicht sehen wir uns bei der Mathem[atiker]-Tagung in Bonn\II{\tagungbonn}? Mit bestem Gruße} \grussformel{Ihr ganz ergebener\\ Rudolf Carnap} \ebericht{Brief, hsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869876}{HD (RC 115-04-20, ksl. Abschrift RC 028-12-02)}; Briefkopf: hsl. \original{Auf der Bahn von New York nach Mexiko, 9.5.23 \,/\, Herrn Prof. Hugo Dingler \,/\, München}.}