Rudolf Carnap an Hans Reichenbach, 7. Mai 1923 Mai 1923

Lieber Reichenbach!

Endlich habe ich nun die Berichte über ErlangenB fertig. Auf der Seereise kam ich nämlich doch nicht dazu. Seekrank war ich zwar nur 1 Tag, aber es war doch immerhin während der ganzen Fahrt so bewegt, daß ich dauernd ziemlich dösig im Kopf war. Wenns auch sonst allerhand langte, so doch nicht, um zu besinnen, was eigentlich der Hauptinhalt der Referate gewesen war.

Eine Woche waren wir in New York. Sehr interessant, viel Trubel, u. auch keine Ruhe zum Schreiben. Dafür habe ich aber Gelegenheit gehabt, mit anderen kompetenten Leuten über den Zeitschriften-Plan zu reden, auch einigen von andern Universitäten, z. B. den Ihnen wohl dem Namen nach bekannten Axiomatikern YoungPYoung, John Wesley, 1879-1932, am. Mathematiker u. HuntingtonPHuntington, Edward, 1874–1952, am. Mathematiker, die zu einem Meeting der Amer[ican] Mathem[ematical] Soc[iety]IAmerican Mathematical Society nach NY gekommen waren. Zufällig las ich von dem Meeting in der Zeitung, u. benutzte schleunigst die günstige Gelegenheit, amerik[anische] Wissenschaft u. Wissenschaftler kennen zu lernen.

Von der Zeitschrift sprach ich zu mehreren, besuchte auch noch einige NYer Professoren; anfangs sprach ich sehr zaghaft, weil ich die Sache doch für ein noch gänz[lich] unsicheres u. sehr gewagtes Projekt ansah. Doch bekam ich durch die Auskünfte immer mehr Mut.

Die Antworten, die ich bekam, besagten Folgendes. Im Allgemeinen gilt zwar die bekannte Tatsache noch, daß 🕮 die Amerikaner nicht viel Interesse an Abstraktem haben, an einer Theorie, die nicht irgendeine nahe Beziehung zu praktischer Anwendung hat. Im letzten Jahrzehnt soll aber doch insofern eine Änderung eingetreten sein, als gerade Mathematik u. mathem[atische] Logik gewißes Interesse gefunden haben. Nach verschiedenen Büchern, die ich gesehen habe, zu schließen, gibt es sogar eine eng mit der mathem[ematischen] Logik zusammenhängende philos[ophische] Richtung, die sich mathematical philosophy nennt (daher auch der für uns etwas verwunderliche Titel des letzten Russellschen BuchesB). Diese math[ematische]oder engl. ergänzen Philos[ophie] hat es übrigens nicht nur mit logischen Dingen zu tun, sondern kommt bis zu soziol[ogischen] u. ethischen Konsequenzen. Diese Richtung hat keine eigene Zeitschrift. Von allen Mathematikern u. Logikern, die ich fragte, ist mir versichert worden, daß Sie durchaus keinen Anstand nehmen würden, ihre Abhandlungen einer deutschen Zeitschrift zu geben, vorausgesetzt, daß sie in das besondere Gebiet der ZSIErkenntnis, Zeitschrift fallen u. daß die ZSIErkenntnis, Zeitschrift Abh. in engl. Sprache aufnimmt. Man glaubte auch, daß allgemein die amerik[anischen] Autoren so denken würden. Die amerik[anischen] ZS haben übrigens jetzt sehr große Schwierigkeiten besonders wegen der unglaublich hohen Druckerlöhne (man sagte mir von 8 $ im Tag), sodaß jetzt eine mathem[atische] ZS. dazu geschritten ist, den Druck in Hamburg machen zu lassen. Mehrmals hörte ich, man habe schon früher den deutschen ZS. gern Abh. gesandt, weil sie da viel schneller zum Druck kamen (dieser Punkt muß also sehr beachtet werden! Durch ihn scheint man 🕮 eine starke Anziehungskraft auf die Mitarbeiter ausüben zu können; um so wichtiger, als natürlich deutsche Honorare einem Amerikaner lächerlich vorkommen müssen.)

Mitarbeiter könnten wir also sicher bekommen. Abonnenten dann, wenn öfters Abh. in Englisch erscheinen, oder auch die ZSIErkenntnis, Zeitschrift durch ihre Qualität sich einen Namen macht. Man sagte mir, daß die Mathematiker fast alle deutsch lesen können; eigentliche Philosophen habe ich nicht gesprochen, sie sollen sich nicht so sehr wie die Math[ematiker] um die deutsche Literatur bemühen (erstaunlich, aber charakteristisch).

Eine Zeitschr[ift], die irgendwie unsrer Absicht nahekommt, fehlt in engl[ischer] Sprache! Dieser Mangel wird von den Leuten, die auf unsern Gebieten arbeiten, bewußt gespürt. Man sprach nur von einer neugegründeten polnischen mathem[atischen] Z.S. (in Warschau ersch[ienen]I), die Abh. in deutsch, engl[isch], franz[ösisch], ital[atienisch] (anscheinend nicht poln[isch]) aufnimmt, also deutlich international sein will, u. die besonders auch die Grundlagenprobl[eme] d[er] Math[ematik] behandeln will. Ich denke, Sie müssen sich unbedingt mal umsehen, sie zu Gesicht zu bekommen, um zu sehen, ob sie irgendwie als Freund oder Konkurrent in Betracht kommt.

Also das Resultat ist: ich sehe die Sache nicht mehr so zaghaft u. skeptisch an wie vorher. Wenn es die deutschen wirtsch[aftlichen] Zustände irgendwie möglich machen, sollten wir der Verwirklichung des Planes unbedingt näher treten. Wenn die Verhandl[ungen] mit Verleger u. Herausg[eber] (EinsteinPEinstein, Albert, 1879–1955, dt.-am. Physiker, verh. mit Else Einstein usw.; auch RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell wäre sehr wichtig f. England u. Amerika, überhaupt 🕮 f. alle Länder) erfolgreich beendet sind, so sollte zunächst, bevor ein Abonnentenwerbungs-prospekt gedruckt wird, ein Rundschreiben vervielfältigt werden, durch das man aufgefordert wird, sich zum Mitarbeiter zu erklären. Erst wenn die Antworten hierauf eingelaufen sind, ist der Werbeprospekt zu drucken, in dem diejenigen genannt werden, die sich zur Mitarbeit bereit erklärt haben.

Falls die Sache glückt, u. das erste Rundschreiben noch vor August fertiggestellt wird, so bitte ich, mir 10 Ex. zu schicken, zur Versendung an die bekannten Amerikaner.

Übrigens sieht man Ihrer Axiomatik der RTBReichenbach, Hans!1924@Axiomatik der relativistischen Raum-Zeit-Lehre, Braunschweig, 1924 mit Interesse u. Spannung entgegen. HuntingtonPHuntington, Edward, 1874–1952, am. Mathematiker sagte mir direkt: wir müßten doch eine Ax[iomatik] der RT haben; u. war sehr erfreut, als ich ihm sagte, daß eine solche schon ausgearbeitet ist. Falls also Ihre Arbeit in der ZSIErkenntnis, Zeitschrift oder BroschürenreiheI erscheinen würde, so würden Sie der ganzen Reihe damit einen guten Bahnbrecher schenken. Ich hoffe im Winter eine Axiomatik der KausalitätB1923@„Axiomatik der Kausalität“ (UCLA 03 – CM 07, CM08), 1923 beisteuern zu können. Auch der von BehmannPBehmann, Heinrich, 1891–1970, dt. Mathematiker (oder ihm u. mir) in Aussicht genommene Abriß der symbol[ischen] LogikB würde einen auch im Austausch geschätzten Beitrag darstellen. Denn auch in Englisch vermisse man sehr eine kurze Darstellung des RussellschenPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell Systems, da sein gr[oßes] 3-bändiges Werk doch vielen zu schwer ist. Aus diesem Grunde habe man auch Russells letztes BuchB (das von Gerntal d[eu]tsch übersetzteB) sehr begrüßt, da es die Hauptgedanken der R[ussell]schen Logik allg[emein]-verständl[ich] darstellt. Aber es bringt gerade das nicht, was der wissen🕮schaftl[iche] Arbeiter als Hilfsmittel braucht, näml[ich] die Symbolik, die Regeln u. Sätze des Kalküls; es ist gewissermaßen mehr ein orientierendes Buch über die Sache als die Sache selbst.

Ich habe die Gelegenheit auch benutzt, um mich nach der engl[ischen] u. amerik[anischen] Lit[eratur] unsrer Gebiete aus den letzten Jahrzehnten zu erkundigen. Nach den Büchern zu schließen, die mir da vorgelegt oder genannt wurden (bes. RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell, WhiteheadPWhitehead, Alfred North, 1861–1947, brit.-am. Philosoph, EddingtonPEddington, Arthur Stanley, 1882–1944, brit. Physiker, WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph, BrandPBrand, NysPNys, KeynesPKeynes, John Maynard, 1883–1946, brit. Ökonom, CarmichaelPCarmichael, Robert Daniel, 1879-1967, am. Mathematiker, KeyserPKeyser, Cassius Jackson, 1862–1947, am. Mathematiker, NordmannPNordmann) ist da doch so viel wertvolle u. für uns wichtige Arbeit geleistet worden, daß unsre Valutaabsperrung von dieser Literatur wirklich eine schlimme Sache ist. Wir müßten dafür sorgen, daß von den wichtigsten Büchern wenigstens ausführl[ich] Rezensionen, besser noch: ausführl[iche] Referate in deutsche Zeitschr[iften] kommen. Würden Sie nicht Zeit u. Lust dazu haben? Sie würden 3 Fliegen m[it] e[iner] Kl[appe] erschlagen: die nötige Aufklärung der deutschen Leser üb[er] diese Bücher, die Befruchtung Ihrer eig[enen] Arbeit u. die Bereicherung Ihrer Bücherei. Der Verleger schickt Ihnen ein Rez.-ex. wenn er von der Redaktion einer deutschen ZS darum gebeten wird. Für Sie kommen deshalb in betracht: WhiteheadPWhitehead, Alfred North, 1861–1947, brit.-am. Philosoph, The principle of relativity‚BWhitehead, Alfred North!The principle of relativity, 1922 190 S., Cambridge University Press (?, Engl) 1922.

EddingtonPEddington, Arthur Stanley, 1882–1944, brit. Physiker, The mathem[atical] theory of relativity; ders. Verl[ag], 1923.BEddington, Sir Arthur Stanley!The mathematical theory of relativism KeynesPKeynes, John Maynard, 1883–1946, brit. Ökonom, Treatise on probabilityBKeynes, John Maynard!Treatise on probability, 1921; Macmillan & Co, St. Martin-? London, 1921) soll sehr gut u. wichtig sein, u. Übersicht üb[er] d[ie] ganze Philos[ophie] der Wahrsch[einlichkeit] geben. Robert CarmichaelPCarmichael, Robert Daniel, 1879-1967, am. Mathematiker, The theory of relativity (John ?& Sons, New York; Chapmas & Hall, London) 2. Aufl. 1920.BCarmichael, Robert!The theory of relativity, 2.Aufl., 1920; 1.Aufl. 1913 Die 1. Aufl. 1913 behandelte nur die spez[ielle] RT, diese auch die allg[emeine]. Enthält 🕮 einen besondern Absch[nitt] üb[er] die Postulate der RT, deren Unabhängigk[eit] usw.; scheint wichtig. Also nicht gezögert! Schreiben Sie gleich an BerlinerPBerliner, Arnold, 1862-1942, dt. Physiker oder wen Sie wollen. Wenn ich zurückkomme, müssen wir die übrige Bücherliste auch in unserm Kreise vertreiben. Vielleicht nehmen wir die ganzen Bücherreferate zu einem Heft unsrer ZSIErkenntnis, Zeitschrift zusammen? –

Für popul[äre] Aufsätze von Ihnen scheint mir am geeignetsten: „Scientific American“, Sc[ientific] Am[erican] Publishing Co, ?& Co, New York.I Ganz ähnlich wie Umschau; sehr viele Illustrationen; drastisch-anschaulich gezeichnete Schemata sind sehr beliebt. –

Gestern im Express Washington-New Orleans hab ich Ihnen endlich die ReferateB getippt. Verabredungsgemäß zu Ihrer freien Verfügung. Auch wenn Sies nicht einer ZS geben wollen, so schreiben Sie bitte den Bericht doch, u. lassen Sie ihn vervielfältigen; ich möchte dann ?-20 Ex. Wird er gedruckt, so bestellen Sie mir bitte (rechtzeitig vor dem Druck) 50 Sonder-Abzüge. Die Rechnung schicken Sie bitte meiner Mutter (Fam. A. Carnap, Buchenbach-Baden). –

Jetzt fahren wir durch die Mississippi-Niederungen. Stellenweise sehr eintönig. Das gibt Muße für diesen Brief.

Der ganzen Familie geht’s gut. Der JungePCarnap, Johannes, 1922–2012, auch Brüderle, Pfarrer, Sohn von Rudolf und Elisabeth Carnap war wohl der einzige Passagier, der sich auf der ganzen Seefahrt stets wohlgefühlt hat. Den Ihrigen beste Grüße!

Ihr
R. Carnap

Bitte schreiben Sie mal, wie die Sachen stehn, an meine MutterPCarnap, Anna, 1852-1924, Tochter von Friedrich Wilhelm Dörpfeld, heiratete 1887 Johannes Sebulon Carnap, Mutter von Rudolf Carnap und Agnes Kaufmann oder: c.o. E. SchöndubePSchöndube, Heinrich, 1861–1927, dt.-mexik. Maschinenimporteur und Großgrundbesitzer in Mexiko, heiratete 1891 Luisa Kebe Quevedo, Vater von Elisabeth Carnap

Apartado postal 756

Mexico D.F. (Via New York)

Brief, hsl., 6 Seiten, HR 016-28-12; Briefkopf: hsl. New Orleans, 7. 5. 23.


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