\brief{Rudolf Carnap an Bertrand Russell, 20. Februar 1923}{Februar 1923} %den 20.Febr.1923. %Herrn Bertrand \textit{Russell}, M.A., F.R.S., %\uline{London SW 3} \anrede{Sehr verehrter Herr!} \haupttext{Als nächste Frucht meiner Beschäftigung mit Ihrem System und mit verwandten Problemen werden, wenn auch noch keine Veröffentlichung erscheinen kann, so doch einige Besprechungen abgehalten werden. Über die beabsichtigten \uline{Tagungen}\II{}, für die die Akademie der Kantgesellschaft\II{} uns ihre Unterstützung gewährt, unterrichten die beiliegenden Rundschreiben. Es wird nur ein kleiner Kreis von Teilnehmern sein, aber um so mehr Hoffnung habe ich auf positive Ergebnisse: Klärung gewißer Fragen, die die nach exakten Methoden strebenden philosophisch Arbeitenden beschäftigen, und wertvolle gegenseitige Anregung für die Weiterarbeit. Leider jetzt erst (vielleicht zu spät?) kommt mir der kühne Gedanke an die Möglichkeit Ihrer eigenen Teilnahme. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich nicht eher daran gedacht habe. Aber das Ausland erscheint einem jetzt unter normalen Umständen so unerreichbar fern, daß man vergißt, daß der Weg von draußen herein ja oft leichter ist. Sollte diesmal die Möglichkeit nicht bestehen, so gebe ich doch die Hoffnung nicht auf, Sie bei günstigerer Gelegenheit sehen zu können. Denn ich habe die geheime Hoffnung, daß die Tagungen\II{}, wenn sie sich diesmal bewährt haben, sich später periodisch wiederholen werden. Aber auch unabhängig von den Tagungen\II{} würde ich mich sehr freuen, Sie hier sehen zu können. Sollte Sie einmal Ihr Weg nach Deutschland führen, so würde es mir eine außerordentliche Freude sein, Sie als Gast bei mir begrüßen zu dürfen. Da ich auf dem Lande wohne und mit meiner Familie ein eigenes kleines Haus habe, so bin ich in der jetzt hier besonders schätzenswerten Lage, Sie ohne jede Schwierigkeit bei mir aufnehmen zu können. Vor kurzem hatte ich die Hoffnung, Sie vielleicht durch glückliche Gelegenheit bei der Durchreise in London aufsuchen zu können. Ich reise nämlich mit meiner Frau und dem kleinsten Kinde auf die Einladung von Verwandten für diesen Sommer nach Mexico. Da wir in der Reisezeit ziemlich gebunden sind, wird es wohl kaum möglich sein, London zu berühren; wahrscheinlich fahren wir Bremen -- oder Antwerpen -- New York. Für die Rückreise (August oder Sept.) ist es nicht ganz ausgeschlossen; doch wird es wahrscheinlich auch nicht gut gehen. So halte ich einstweilen an meiner Hoffnung auf einen Besuch von Ihnen in Deutschland fest. Durch meine Reise wird meine wissenschaftliche Arbeit einige Verzögerung erleiden, wenn ich auch glaube, unterwegs nicht ganz auf das Denken und Niederschreiben verzichten zu müssen. Um Ihre mit so dankenswerter Mühe mir gegebene Zusammenstellung der Definitionen\IW{} usw. inzwischen weiterwirken zu lassen, will ich sie mit zu den Tagungen\II{} nehmen, um sie einem der Teilnehmer zur Benutzung mitzugeben. Ich sende Ihnen gleichzeitig meine Schrift über den Raum.\IC{\rjdissertation} Viel\neueseite{}leicht interessiert Sie mein Versuch, den Streit zwischen den Logistikern und ihren Gegnern über die Erkenntnisquellen der Geometrie dadurch zu lösen, daß ich zeige, daß beide von verschiedenen Gegenständen unter dem Namen ,,Raum`` sprechen; vielleicht auch die Erörterungen über Sinn und Berechtigung der Anwendung nichteuklidischer Geometrie in der Physik. Über das letztere Problem und andre damit verwandte Grundlagenfragen der Physik handelt ein kleiner Aufsatz ,,Die Aufgabe der Physik``\IC{}, den ich Ihnen gleichzeitig zugehen lasse. Mit großem Interesse habe ich in Ihrem Buche ,,Politische Ideale`` (in deutscher Übersetzung)\IW{} gelesen, und mir gleich mehrere Exemplare zum Verschenken besorgt. Ich wünschte, Sie hätten unter den politisch Interessierten in Deutschland so viel Einfluß, wie Sie es unter den mathematisch Interessierten haben. Aber das ist leider nicht der Fall. Mit Ausnahme einiger zahlenmäßig kleiner, aber vielleicht doch den geistigen Kern der Zukunft tragender Strömungen, besonders unter der jungen Generation und unter der Arbeiterschaft, ist das geistige Bild des Ganzen, gerade auch unter den Gebildeten, sehr unerfreulich und oft noch betrübender als der wirtschaftliche Zustand. Sehr wohltuend ist es, dann doch noch Männer zu finden, die ihren Kopf und vor allem auch ihr Gewissen klar halten, zu denen ich z.\,B. Fr[iedrich] W[ilhelm] Foerster\IN{\rjfoerster} rechne, und die auch die (mir nicht gegebene) Fähigkeit haben, ihrer Gesinnung einen packenden Ausdruck zu verleihen. Ob F[oerster]\IN{\rjfoerster} in allen sachlichen Fragen richtig urteilt, kann ich nicht ermessen, zumal da man bei den Gepflogenheiten der Presse oft kaum durchschauen kann, was wahr ist, und was nicht. Aber sein unerschütterlicher Wahrheits- und Gerechtigkeitssinn wirkt läuternd und stärkend in den heutigen wirren Verhältnissen. Die kleine, wenig bekannte, aber gute Zeitschrift ,,Die Menschheit``\II{}, in der F[oerster]\IN{\rjfoerster} allwöchentlich seine Betrachtungen zur Lage veröffentlicht, interessiert Sie vielleicht auch. Ich sende Ihnen einige Nummern. Mit ergebenstem Gruße} \grussformel{Ihr\\{} [Rudolf Carnap]} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870695}{RC 102-68-30}; Briefkopf: msl. \original{den 20.\,Febr. 1923 \,/\, Herrn Bertrand Russell, M.A., F.R.S. \,/\, London SW 3}.}