Rudolf Carnap an Wilhelm Flitner, Jänner 1923 Jänner 1923

Ist Teil von Brief vom 27.7.23. Den hat MW nur teilweise transkribiert. Der Schluss ist dieser Teil, also kein eigener Brief, auch nicht Datierung offen. [MW: Datierung aus dem Kontext erschlossen. JP: Warum? Die ersten drei Blätter des Briefes bat RC an die Mutter bzw. Garthe zu schicken. JP: AUCH an Mutter und Garthe]

Zu Deinen beiden Fragen über Darlehensbedingungen: Rückzahlung eilt zunächst nicht, wenn wirs später nötig haben u. Du zahlen kannst, einigen wir uns darüber; Zinsen kommen nicht in Frage. – Es ist möglich, daß ich Dir nach unserer Rückkehr gut noch mehr geben kann. Augenblicklich sind unsre zukünftigen Geldverhältnisse noch unbestimmt; auch den Kieler Plan muß ich davon abhängig machen. –

Ich möchte Dich bitten, diesen Brief (die ersten 3 Blätter auch der Mutter nach Wiesneck zu schicken, u. dann auch mal an Garthe. Daß ich immer wenig Briefe schreibe, weißt Du ja.

Von der Entwicklg. der Dinge in Deutschland berichten in den letzten Tagen die Zeitungen immer schlimmeres. Seit den ersten Tagen des Ruhrkrieges bin ich fast noch mehr betrübt über das, was Deutschland tut u. unterläßt, als über das, was es leidet. Daß der Ruhrkrieg von Anfang an als verloren gelten mußte, hast Du vermutlich ebenso angesehen wie ich. Meine Auffassung, die Du vielleicht nicht teilst, daß er vermeidbar gewesen wäre, läßt mich die gegenwärtigen u. drohenden Geschehnisse nur mit noch größerer Bitterkeit ansehen. Ich vertehe die Amerikaner, daß sie sich kopfschüttelnd von Deutschland abwenden; ich glaube, man kann ihnen kaum einen Vorwurf daraus machen; auf Gleichgültigkeit oder Voreingenommenheit gegen die früheren Feinde oder Nachwirkungen der Kriegspropaganda gründet sich ihre Haltung nicht (wie man in Deutschland häufig glaubt).

Es ist auch in dieser Beziehung ein Jammer, daß infolge der Valutaschwierigkeiten so wenige gebildete Deutsche ins Ausland kommen können. –

Nun bin ich doch in die polit[ische] Frage hineingeraten, die ich vermeiden wollte. Lassen wir sie, bis wir einmal mündlich zu einem Verstehen kommen. –

Von mir u. Elisabeth Dir, Lisi u. den Kindern viele herzl[iche] Grüße u. den Wunsch, daß Ihr nicht zu sehr unter all den Schwierigkeiten u. bevorstehenden Unruhen leiden müßt.

Dein
Carnap


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