Rudolf Carnap an Heinrich Scholz, 11. Oktober 1922 Oktober 1922

Sehr verehrter Herr Professor!

Ihr Brief vom 7. war für mich die erste Nachricht von der Berufung meines Freundes FreyerPFreyer, Hans, 1887–1969, dt. Soziologe, verh. mit Käthe Freyer, Mitglied des Serakreises nach Kiel, über die ich mich außerordentlich freue. Daß Sie in diesem Falle auch an mich gedacht haben, freut und ehrt mich sehr. Doch ist mir nicht zweifelhaft, daß FreyerPFreyer, Hans, 1887–1969, dt. Soziologe, verh. mit Käthe Freyer, Mitglied des Serakreises, den ich als Menschen und als Denker sehr hochschätze, entschieden den Vorrang verdient, schon allein gemessen an seinen bisherigen Leistungen, sowohl in den Veröffentlichungen als in der Lehrtätigkeit. Dagegen sind die Früchte meiner Arbeit noch sehr bescheiden. Veröffentlicht ist nur der „Raum“B1922@Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin, 1922. In den KantstudienIKant-Studien, Zeitschrift wird ein Aufsatz „Über die Aufgabe der Physik“B„Über die Aufgabe der Physik“ erscheinen, in den Vaihingerschen AnnalenIAnnalen der Philosophie, Zeitschrift eine Arbeit „Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität“B1924@„Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität. Eine Untersuchung über den logischen Zusammenhang zweier Fiktionen“, Annalen der Philosophie und Philosophischen Kritik 4 (3), 1924, 105–130. Da ich aus Ihrem freundlichen Briefe Ihr Interesse an meiner Arbeit ersehe, werde ich Ihnen Abzüge dieser Aufsätze, sobald ich sie wieder in die Hand bekomme, zusenden; denn die von den Zeitschriften zugesagte Veröffentlichung wird ja doch wohl unter heutigen Umständen eine ziemliche Zeit auf sich warten lassen. Ferner habe ich jetzt eine größere Aufgabe unter den Händen, bin damit aber noch in der Verarbeitung begriffen, sodaß ich noch nicht einmal Aufgabe und Thema kurz formulieren kann. Doch habe ich, zum Zwecke der Besprechung mit Bekannten, schon eine skizzenhafte Niederschrift der wichtigsten bisherigen Gedankengänge gemacht („Vom Chaos zur Wirklichkeit“B1922@„Vom Chaos zur Wirklichkeit“ (RC 081-05-01), 1922), die ich Ihnen auch bald zusenden will. Vielleicht können Sie trotzt dem völlig unfertigen Zustande doch die Grundzüge des Baues, der daraus werden soll, schon erkennen. Dazu möchte ich noch bemerken, daß der Entwurf dogmatischer klingt, als er im Grunde gemeint ist; eine spätere Ausführung würde klarlegen müssen, daß völlig andre Systeme denkbar sind, daß dieses gewissermaßen nur ein Beispiel ist, dem Wunsche entsprungen, über bloß programmatische Sätze hinwegzukommen und einmal zu zeigen, wie etwa ein System selbst aussehen kann. Bei dieser Arbeit sowie auch schon in kleinem Maße bei der über die Dreidimensionalität habe ich von den Begriffen und der Symbolik der mathematischen Logik oder Logistik Gebrauch gemacht, und zwar von deren drittem Teil, der Beziehungslehre, (die sich auf den beiden ersten, Urteils- und Klassenlehre, aufbaut). Damit hängt eine weitere Aufgabe zusammen, die mich sehr anzieht: die Aufstellung eines Leitfadens der Logistik und zwar vor allem der Beziehungslehre, der nicht hauptsächlich für die Zwecke des Mathematikers geschrieben wäre (zur Axiomatik der Zahlenlehre und der Geometrie), sondern für die des Erkenntnistheoretikers, oder genauer: für die Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes. Eine solche Strukturtheorie scheint mir die heute zu fordernde Antwort auf das Kategorienproblem zu sein, und eine mit Rücksicht auf diesen Zweck aufgebaute Beziehungslehre ihr wertvollstes 🕮 Werkzeug. RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell– Cambridge, der die beste Aufstellung und Durchführung einer Logistik und eines ganzen auf ihr aufgebauten mathematischen Systems geleistet hat, hat die große Freundlichkeit gehabt, mir zur Verwertung für einen solchen oder ähnlichen Zweck eine Zusammenstellung der Definitionen und wichtigsten Sätze seines Systems auszuschreiben und zu schicken, da sein großes Werk „Principia Mathematica“BRussell, Bertrand, und Alfred North Whitehead!1910@Principia Mathematica, Cambridge UK, 1910–1913, 2. Aufl., 1925–1927 mir hier nicht zugänglich ist. Ob und wann ich aber zu dieser Arbeit komme, ist mir noch nicht klar; weil sie nicht nur Zeit erfordert, sondern vor allem bei mir noch gründliches und mannigfaches vorheriges Durchdenken.

Ihre Frage, ob ich auf dem begonnenen Gebiet weiterarbeiten will, ist damit zunächst schon bejaht. Und auch für weiterhin glaube ich, daß dies das eigentliche Feld meines inneren Berufes ist. Ihre Frage, ob ich hier auch weiterarbeiten kann, geht wohl auf die wirtschaftliche Möglichkeit. Auch diese ist mir einstweilen gegeben. Ich bin nicht Lehrer, habe aber das Examen gemacht, um nötigenfalls auch diesen Beruf ergreifen zu können. Solange ich aber nicht wirtschaftlich gezwungen bin, möchte ich die wissenschaftliche Arbeit nicht verlassen. Es ist gewiß ein besonders glückliches Schicksal, für das ich sehr dankbar bin, daß ich, obwohl ich FrauPCarnap, Elisabeth, 1895–1987, auch Cha oder Chacha, Grafologin, Tochter von Luisa und Heinrich Schöndube, von 1917 bis 1929 verh. mit Rudolf Carnap und drei KinderPCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Hanneliese, 1920–2016, Tochter von Rudolf und Elisabeth CarnapPCarnap, Johannes, 1922–2012, auch Brüderle, Pfarrer, Sohn von Rudolf und Elisabeth Carnap habe, in der Lage bin (und zwar durch die gütige Hilfe meines in Amerika lebendenaHsl. SchwiegervatersPSchöndube, Heinrich, 1861–1927, dt.-mexik. Maschinenimporteur und Großgrundbesitzer in Mexiko, heiratete 1891 Luisa Kebe Quevedo, Vater von Elisabeth Carnap) mich einstweilen ganz meiner wissenschaftlichen Arbeit zu widmen; wie mancher andre, der es nicht minder verdient hätte, muß die Wissenschaft liegen lassen und einem Broterwerb nachgehen, während ich in der Ruhe des Landlebens, im Besitze einer ordentlichen Bücherei, in voller Sammlung an meine Arbeit gehen kann.

Nun die schwierige Frage der Universitätslaufbahn. Privatdozent könnte ich zwar werden. Ich habe den Gedanken auch oft erwogen, da ein wissenschaftlicher Verkehr mit auf dem gleichen Gebiet Lernenden und Arbeitenden sicherlich fördernd wäre und das Opfer der hier für eine gesammelte Arbeit so günstigen Bedingungen vielleicht lohnen würde. Aber was würde dann? Ich bin kein Philosoph und glaube nicht recht daran, daß mir eine Fakultät eine philosophische Professur geben würde. Das heutige Fach Philosophie vereinigt ja sehr heterogene Gebiete. Ich sehe da vor allem zwei Hauptteile: 1) Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie, Metaphysik; man kann auch sagen: Kultur- und Naturphilosophie, oder die Wissenschaft von Lebens- und Weltanschauung. 2) nach traditioneller Benennung: Logik und Erkenntnistheorie. Nach meiner Auffassung sollte der Name Philosophie dem ersten Teil allein vorbehalten bleiben, während die einzelnen Gebiete des zweiten Teils sich als Fachwissenschaften loslösen müßten. Wie sich vor nicht langer Zeit die Psychologie selbständig gemacht hat, so müßten jetzt folgen: die Wissenschaftslehre (als Beispiele nenne ich die Abhandlungen „Der Raum“B1922@Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin, 1922 und „Die Aufgabe der Physik“B„Über die Aufgabe der Physik“) und die Ordnungslehre (Beispiele: „Leitfaden der Beziehungslehre“B, „Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität“B1924@„Dreidimensionalität des Raumes und Kausalität. Eine Untersuchung über den logischen Zusammenhang zweier Fiktionen“, Annalen der Philosophie und Philosophischen Kritik 4 (3), 1924, 105–130, „Vom Chaos zur Wirklichkeit“B1922@„Vom Chaos zur Wirklichkeit“ (RC 081-05-01), 1922 = „Strukturtheorie des Erkenntnisgegenstandes“). Besonders die letztere steht als Formwissenschaft der Mathematik viel näher als der Philosophie, zumal jetzt, nachdem die Mathematik einzusehen beginnt, daß ihr Gegenstand nicht die Quantität und der Raum ist, sondern 🕮 bestimmte Ordnungsgefüge, die unter anderem auf Quantitäts- und Raumverhältnisse angewandt werden können. Nun stehen heute sowohl die Wissenschaftslehre als auch die Ordnungslehre noch in ihren Anfangsstadien. Daher gebe ich zu, daß es geraten erscheinen mag, sie im Forschungs- und vor allem im Lehrbetrieb noch nicht als einzelne ganz selbständige Fächer zu behandeln. Man mag ihre Bearbeitung deshalb, so verschieden sie auch sind, in Personalunion vornehmen. Dagegen scheint mir ihre heute bestehende obligatorische Verbindung mit jenem ersten Teil, also der eigentlichen Philosophie, für sie mehr hemmend als fördernd zu sein. So würde wenigstens ich persönlich es als Hemmung empfinden, wenn ich, um in diesen Fachgebieten arbeiten und lehren zu dürfen, gezwungen würde, auch jene eigentliche Philosophie zu betreiben und zu lehren. Zwar habe ich für sie ein lebhaftes Interesse, habe mich durch Bücher, Vorlesungen, Seminare und manche Freundesgespräche mit ihren Fragen und Lösungsversuchen vertraut gemacht, aber immer nur als Mensch, aus persönlichem Bildungsbedürfnis, nicht als produktiver Forscher oder reproduktiver Lehrer. Ich glaube nun zwar, daß man in späteren Zeiten die gleiche Verwunderung darüber haben wird, daß unsere Philosophen auch Wissenschaftslehre und Ordnungslehre unterrichten, wie wir uns wundern, daß Kant auch physische Geographie und Meteorologie lehrte; aber diese Zeit werden wir wohl nicht mehr erleben.

Es steht also jetzt so: wenn das heutige Fach Philosophie in zwei Teile geteilt würde, so würde ich zwar nicht einmal in dem zweiten mich als völlig zuständig erklären, da ich von der Wissenschaftslehre ja nur den Teil verstehe, der sich auf die exakten Wissenschaften bezieht, aber immerhin einen Auftrag, Wissenschaftslehre und Ordnungslehre zu dozieren, anzunehmen wagen. Da anstatt jener Trennung die leidige Verquickung besteht, (ich sage das nicht aus Feindschaft gegen Metaphysik und Wertphilosophie, sondern aus dem Willen zu sauberer Abgrenzung), so scheint die Universitätslaufbahn mir verschlossen.

Ich würde mich sehr freuen, Ihre Meinung sowohl zu der grundsätzlichen Frage jener Teilung des Faches Philosophie, als auch zu meinen persönlichen Bedenken gegen die Universitätslaufbahn zu hören. Um zu dokumentieren, daß meine Bedenken nicht unbedingt starr und unüberwindlich sind, entspreche ich doch schon ihrem Wunsche nach Mitteilung meiner Personalien durch Beifügung des Lebenslaufes. Welche Angaben erforderlich sind, ist mir nicht bekannt; weitere teile ich Ihnen auf Anfrage gern mit; auch FreyerPFreyer, Hans, 1887–1969, dt. Soziologe, verh. mit Käthe Freyer, Mitglied des Serakreises kann vielleicht nötigenfalls einige Auskunft geben.

Gerade während ich diesen Brief schreibe, erhalte ich das neue Heft der KantstudienIKant-Studien, Zeitschrift und sehe beim Vergleich mit dem vorigen Heft mit Bewunderung, daß Sie jene beiden Gebiete zu bearbeiten vermögen. Auch ersehe ich aus Ihrem Brief, daß Sie in Ihrem Seminar ähnliche Fragen weiterhin behandeln werden. Sollte sich einmal eine Gelegenheit bieten, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, indem vielleicht nach Schluß eines Semesters Ihr Seminar sich ein paar Tage längeren 🕮 Besprechungen widmen würde, oder vielleicht in Form einer Veranstaltung der Akademie ErlangenIPhilosophische Akademie Erlangen, so würde ich mich sehr freuen, von Ihnen eine Aufforderung dazu zu erhalten.

Mit bestem Dank für Ihren freundlichen Brief und hochachtungsvollem Gruße verbleibe ich

Ihr ganz ergebener
R. C.

P.S. Nach Ihrem AufsatzB in den KantstudienIKant-Studien, Zeitschrift vermute ich, daß ein älterer Entwurf „Die logischen Grundlagen der Kinematik“B Sie auch interessieren könnte. Ich werde ihn deshalb mitschicken.

Brief, msl. Dsl. (RC 102-72-10), 4 Seiten, Briefkopf: msl. den 11. Okt. 1922  /  Herrn Prof. Dr. Heinrich Scholz  /  z.Z. Berlin.


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