\brief{Broder Christiansen an Rudolf Carnap, 1. Jänner 1922}{Jänner 1922} %\{1922\} \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Sie wissen schon, daß ich gegen einige Punkte Ihrer anregenden Arbeit\IC{} störrisch bin; hier sind nun meine Einwände: I.) p.\,26\,ff. $b$ ist das Teilgebiet der sekundären Welt, das alle und nur diejenigen Elemente umfaßt, denen Elemente der primären Welt zugeordnet sind. $b$ ist, genau genommen, das Geschehen in den sensiblen Sphären der Großhirnrinde eines Subjekts, während und sofern dieses Subjekt seine primäre Welt von der Dimensionszahl (2+1) erlebt. \fnAmargin{Ksl. Notiz} Als ein Geschehen im Gehirn hat $b$ die DZ(3+1). Dabei ist $b$ ein Freiheitsgebiet. Soll $b$ einer sekundären Welt von kausalem Gefüge zugehören, so wäre nach Ihrer Ableitung nötig, die DZ von $b$, nämlich (3+1) zu überschreiten. Das sekundäre Weltganze müßte die DZ(4+1) bekommen. Das widerspricht aber dem Befund: sowohl die gewöhnliche Welt, wie auch die Physikerwelt bestehen mit der DZ(3+1). Ihr Beweis scheint mir über das Ziel hinaus zu schießen. Vielleicht liegt es so: Ein Freiheitsgebiet kann dadurch kausalen Sinn bekommen, daß wir es auffassen als Ausschnitt eines dazu passend gewählten größeren Bereichs. Also mit Hilfe von Ergänzungen, inhaltlichen Erweiterungen. Diese Erweiterungen \uline{können} sich vollziehen in einer neuen Dimension, aber es bedarf einer solchen nicht. Da die Raumzeitformen in jeder Richtung unbegrenzt sind, ist für Zuwachs Platz genug. Verkausalierung wäre dann, wie wenn ein Philologe einen sinnlosen Text durch Zusätze umwandelt in einen sinnvollen. Dabei kann das Freiheitsgebiet im Verhältnis zum kausalbestimmten ganzen Bereich der weitaus größere Teil sein. Nehmen wir eine Welt an, bestehend einzig aus folgenden 2 Stücken $A$ und $B: A$ gleich einem aufgezogenen Grammophon mit vorgerichteter Platte; und $B$ gleich einem Riesenluftraum rings darum: da ist das \neueseite{} Schallwellenspiel in diesem Riesenraum \fnAmargin{Hsl. \original{nein}} von dem ganzen Geschehen dieser Welt der weitaus größere Teil und doch ein Freiheitsgebiet (im Wesentlichen wenigstens und jedenfalls so gut wie Ihre ,,primäre Welt``, wo ja auch interqualitative Mitbestimmungen durch Simultan= und Folgekontrast vorkommen.) Nehmen wir ferner an, ein Subjekt habe diese Riesenwelt $B$ der Tonwellenschwingungen in ihrem raumzeitlichen Aufbau DZ(3+1) richtig erfaßt und auch richtig als Freiheitsgebiet verstanden; $A$ aber sei ihm verborgen: so brauchte das Subjekt, um seine Welt $B$ kausal zu verstehen, nur jenes kleine $A$ hinzuerfinden. Es überschritte nicht die DZ(3+1). Auch wenn $b$ die DZ(2+1) hätte, so könnte es, dem steht prinzipiell nichts entgegen, in ein umfassendes Kausalgefüge aufgenommen werden, ohne daß dabei die DZ(2+1) überschritten würde. Übrigens wäre, wenn man nichts anderes wollte als schlechthin Kausalität, das Präformationssystem wie bei einem Phonographen immer die einfachste Art der Erweiterung. Man kann dabei sogar ein $A$ wählen von geringerer DZ als $B$: man kann das unkausale Weltgeschehen präformiert sein lassen in dem Gedanken eines unräumlichen schöpferischen Gottes.\fnAmargin{Ksl. Anmerkung} II.) p.\,20. Es scheint mir also von Ihnen nicht zwingend erwiesen, daß die \sout{physikalische} \guilsinglleft{}?\guilsinglright{} Determiniertheit immer als eine Determiniertheit ersten Grades zu fassen sei. Es können in einem Kausalbereich große Ausschnitte $b$ mit der gleichen DZ wie das Ganze \guilsinglleft{}?\guilsinglright{} vorhanden sein: \fnAmargin{Hsl. \original{nein}} wie in den vorigen Beispielen gezeigt. Wenn die Verkausalierung eines Freiheitsgebietes durch inhaltliche Erweiterung geschieht, so kann die Erweiterung in eine neue Dimension gelegt werden (also etwa Übergang von DZ3 zu DZ(3+1) oder von DZ(2+1) zu DZ(3+1)) aber es bedarf dafür nicht einer neuen Dimension; und nicht die DZ=Erweiterung, sondern die Inhalts=Erweiterung entscheidet. Ich glaube übrigens, daß die Umbildung eines Freiheitsgebietes in ein Kausalgefüge nicht einzig durch Erweiterung, sondern auch durch das Gegenteil, durch Minderung möglich ist. \fnAmargin{Hsl. \original{nein!}} Ein Analogon: Wenn wir in dem Satz: ,,Der Milch Himmel frißt kalt ist Schwefel blau`` \neueseite{} das 2., 4., 5., 7. Wort streichen, so wird durch diese Minderung der Satz ein Sinngefüge. Ich vermute, daß recht viele primäre Gegebenheiten, wie z.\,B. die Lust= und Angstgefühle, die garnicht anders erlebt werden als Gerüche und Farben, sich nur darum in unserer Welt nicht vorfinden als ,,objektive`` Qualitäten, weil sie gestrichen werden mußten zugunsten des kausalen Sinnes. Und so wäre es schließlich auch nicht undenkbar, daß ein Freiheitsgebiet zur Verkausalierung grade eine solche Minderung verlangte, bei der eine Dimension wegfiele \textkritik{(Umwandlung einer 3 dimensionalen Raumwelt in einen \guilsinglleft{}?\guilsinglright{})}\fnA{Hsl. vom Autor} III.) p\,10. Ich mutmaße, daß die DZ(2+1) für die ,,primäre Welt`` nicht zutrifft. Es ist mir nicht wahrscheinlich, daß die zeitliche Ausdehnung schon als solche sollte unmittelbar gegeben sein. Wohl werden sich in den Grunderlebnissen Qualitäten finden, die eine zeitliche Ordnung gestatten, die also als zeitliche Figur gedeutet werden können, aber erst wenn einmal das Zeitschema gewonnen ist. Und das gleiche gilt mir vom Raum: auch die unmittelbaren optischen Eindrücke wird man wohl schwerlich als flächenhaft empfunden betrachten dürfen, sondern als ein zunächst chaotisches Erlebnis, wie etwa wenn man einen Klaps auf den Schenkel bekommt. Der ,,optische Klaps`` enthält ungeschieden eingewoben eine Fülle von Qualitäten, die zur Orientierung in der Fläche dienen können, sobald erst einmal das Raumschema bereit steht. Man darf ja nicht, weil die Netzhaut flächenhaft ist, annehmen, nun müsse das optische Bild auch flächenhaft empfunden sein. So sehe ich zwischen Fläche und dritter Raumdimension keinen gründenden Unterschied. Die qualitativen Kriterien der Raumgestalt mögen hier etwas schlechter, etwas weniger zuverlässig sein, darum sind die Flächenanzeigen nicht anderen Ranges und auch nichts weiter als eben Kriterien, nicht schon an sich Flächenbewußtsein. Ich setze damit keineswegs die erste Erfahrung identisch mit dem Kantischen\IN{\kant} ,,Material`` der Erfahrung; ich nehme sie nicht als eine Summe von singulären Qualitäten; sondern als ein formlos wogendes Geschehen. Jedenfalls also als etwas, bei dem die Realitätsfrage noch keinen Sinn hat. \neueseite{} IV.) Sie nennen die Umformung der primären Erfahrung ,,Fiktion``. Damit sind die unmittelbaren Gegebenheiten als die Wirklichkeit schlechthin gesetzt. Soll das eine bloße Verbaldefinition sein, so ist dagegen nichts einzuwenden; aber dann bleiben die Sätze ohne Belang. Versteht man dagegen unter Realität wie üblich einen erkenntnistheoretischen \uline{Wert}, nach dem man fragen, den man bezweifeln, den man mit Ja und Nein anerkennen und ablehnen kann, so ist solcher Wertbegriff sicher nicht anzuwenden oder gar einzuschränken auf das chaotisch formlose Gewoge der ersten Gegebenheiten. Vielleicht müßten Sie sich einmal gründlich mit dem Realitätsbegriff auseinandersetzen. Nach meiner Meinung liegt hier die Mitte aller erkenntnistheoretischen Probleme. Erst wenn Klarheit gewonnen ist, was Welt\uline{wirklichkeit} eigentlich meint, läßt sich gegründet entscheiden, ob Kausalität für Wirklichkeit unerläßlich ist oder erläßlich, oder ob sie gar in ihr ein Fremdkörper ist und also Fiktion. Mit besten Grüßen} \grussformel{Ihr\\ Broder Christiansen} \briefanhang{\textkritik{Ich muß mich meiner Einwände schon Ich hoffe eigentlich, daß sie Ihnen nichts anhaben mögen. Denn Ihre Arbeit\IC{} \blockade{Handschrift} }\fnA{Hsl.}} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/807905}{RC 028-10-07}; Briefkopf: gedr. \original{Dr. Broder Christiansen \,/\, Buchenbach inn Baden}; \blockade{ksl. Notiz; mit selbem Bleistift ,,1922``, sonst ohne Datum}.}