Rudolf Carnap an Hugo Dingler, 3. Dezember 1921 Dezember 1921

Sehr verehrter Herr Professor!

Ich danke Ihnen bestens für Ihren freundlichen Brief und das darin ausgesprochene gütige Urteil über meine DissertationB1922@Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin, 1922. Auf die Punkte, die Sie berühren, möchte ich Ihnen gleich erwidern.

Es ist richtig, daß ich nicht auf die Exhaustionstheorie eingegangen bin. Das geschieht nicht aus gegensätzlicher Stellung zu ihr, sondern weil diese Theorie nicht die Beantwortung gerade der Frage ist, die ich im Abschnitt über den physischen Raum zu beantworten suche; nämlich nach der logischen Beziehung zwischen dem Tatbestand der Erfahrung, dem Raumsystem und der Maßsetzung. Allerdings ist die Frage, die die E[xhaustions]-T[heorie] beantwortet, mit dieser sehr nahe verknüpft und müßte bei ausführlicherer Behandlung meines Themas, als ich sie mir gestattet habe, auch miterörtert werden. Es ist die Frage, in welchem praktischen Verfahren nach Wahl eines Raumsystems die zugehörige Maßsetzung („starrer Körper“) gefunden, also der zugehörige Maßnorm-Körper stufenweise technisch hergestellt werden könnte. Ich habe dagegen nur die logische Möglichkeit dieser Wahl des Raumsystems und das Vorhandenseins der zugehörigen Maßsetzung festgestellt und an dem Beispiel S. 47 ff. anschaulich gemacht. Die Einschaltung einer Besprechung der E[xhaustions]-T[heorie] würde daher m. E. auf S. 48 Mitte gehören, wo, ohne die genannte Frage nach dem praktischen Verfahren zu stellen, aus dem gewählten Raumsystem die zugehörige Maßsetzung unter Bezugnahme auf den 🕮es folgt hier eine Figur, 1 Seite, aber NUR bei RC-28-12-03 Maßnorm-Körper der in der Physik üblichen Maßsetzung \(M1\) rechnerisch dargestellt wird (wobei vorausgesetzt ist, daß dieser Maßnorm-Körper der \(M1\) schon bekannt und vorhanden ist, und daß bei seiner Zugrundelegung die Erde als Kugel in einem euklidischen Raum erscheint). Daß jedoch durch die Außerachtlassung der E[xhaustions]-T[heorie] meine Alternative S. 33: „Geradensetzung und Maßsetzung“ nicht zwingend sei, glaube ich nicht zugeben zu müssen. Denn diese Alternative ist nicht so gemeint (wie hier auf S. 33 vielleicht leicht mißverstanden werden kann), als müsse entweder GS oder MS direkt gewählt werden; sondern so, daß man entweder sich damit begnügt, nur projektive Raumverhältnisse bestimmen zu wollen, und dann nur eine GS festzusetzen hat, oder aber man will auch (wie vermutlich in der Physik notwendig) die metrischen Raumverhältnisse bestimmen können, in welchem Falle man eine MS festlegen muß. Daß jedoch in diesem letzteren Falle, der allein weiterhin besprochen wird, nicht unbedingt die MS direkt gewählt werden muß, sondern auch das Raumsystem gewählt werden kann und dann indirekt aus diesem und dem Tatbestand die Maßsetzung sich ergibt, wird dann später S. 46 und 54 betont und an dem Beispiel S. 47 ff. verdeutlicht. Das Exhaustionsverfahren der „reinen Synthese“ ist ja ein Sonderfall dieser letzteren indirekten Festlegung der MS („starrer Körper“) nach der Wahl eines Raumsystems, nämlich des euklidischen.

Nun zu Ihren Fragen über das Beispiel S. 40 ff., durch das gezeigt werden soll, wie die Maßsetzung direkt festgesetzt werden und daraus empirisch, aber unter bloßer Verwendung von Punktkoinzidenzen, das zu dieser gerade gewählten MS zugehörige Raumsystem bestimmt wird. 🕮 A, B‚… bezeichnen in den fünf Versuchen 1) - 5) dauernd die gleichen Punkte; und zwar ohne Kennziffern: Punkte auf dem Maßnorm-Körper („Eisenstück“), mit Kennziffern: Punkte auf der zu prüfenden Fläche f. Auch hier ist wieder die Frage nach dem praktischen Verfahren aHsl. Das ist doch die Hauptsache beim Körper wenigstens zur Herstellung einer solchen Fläche, die gerade alle diese Bedingungen 1) - 5) erfüllt und sich dadurch als Ebene in Bezug auf die gewählte MS erweist, nicht behandelt worden. Sondern es werden nur die Kriterien angegeben, durch die entschieden werden kann, ob irgendeine vorgelegte Fläche in Bezug auf die gewählte Fläche Maßsetzung Ebene ist. Bei der Schilderung der Versuche ist angenommen, daß diesmal gerade die Kriterien der Ebenheit zutreffen; ob das Zufall ist, oder ob eine solche Fläche nach langem Probieren gefunden worden oder aber in methodischem Verfahren mit Hinsicht auf die immer genauere Erfüllung jener Kriterien hergestellt worden ist, bleibt dabei offen. (Gleichnis: ich behandele die Frage: wie kann geprüft werden, ob eine vorgelegte Stange die gewünschte Länge hat, und lasse die Frage beiseite, was praktisch zu tun sei, wenn die Stange die Prüfung nicht erfüllt, damit sie sie stufenweise immer genauer erfülle).

Die Schilderung der Versuche ist sicherlich sehr unanschaulich und mutet wohl zunächst verworren an. Das Verständnis wird nun sicher sehr erleichtert, wenn ich angebe, daß die Punkte die unten verzeichnete Lage zueinander haben müssen, damit die Bedingen 1) - 5) erfüllt werden können. Ich habe mir auch sehr überlegt, ob 🕮 ich nicht eine solche Figur beigeben solle. Aber ich habe dann geglaubt, im Interesse der Exaktheit des Gedankens dies Opfer der Anschaulichkeit bringen zu müssen. Denn es würde trotz aller Warnung nicht leicht beim Leser das Mißverständnis zu vermeiden gewesen sein, als werde eine solche Lage der Punkte für die Versuche vorausgesetzt (das ist ja sonst immer der Sinn einer Figur zu einem physikalischen Texte). Aber hier wird nichts vorausgesetzt; insbesondere nichts über die Art solcher Konstellationen; sondern es sollen nur die in 1) - 5) genannten Koinzidenzen zutreffen. Aus diesen folgt dann allerdings, daß die Punkte die gezeichnete Konstellation haben. Das Wichtige ist gerade, daß dies nur aus den Koinzidenzen folgt, ohne daß wir etwa vor den Versuchen schon etwas über die gegenseitige Lage der Punkte wüßten.

In 1): „Durch wiederholte … in Berührung.“ Hieraus folgt, daß A‚B‚C nicht auf einer Geraden liegen, ebenso auch nicht A‚C‚D, und auch nicht B‚C‚D. Über A‚B‚D dagegen ist noch nichts entschieden. „Ferner lassen … D1 und B1“. Daraus folgt: Daraus folgt: Dreieck B1‚C1‚D1 ist gleichseitig. In 3): „falls dies vierte nicht das Paar C C1 war“; dieser Fall (ob nämlich, wenn A‚B‚D sich mit A1‚B1‚D1 decken, stets auch C mit C1 zusammenfällt) ist ja in Versuch 1) nicht untersucht worden. Hier in Versuch 3) wird nun gerade dieser Fall untersucht und dabei gefunden, daß bei ihm nicht, wie bei den drei Fällen des Versuches 1), die vierte Koinzidenz auch stets mit eintrifft; sondern sie (nämlich CC1) ist zunächst erfüllt, dann aber nicht mehr, während A‚B‚D dabei dauernd mit A1‚B1‚D1 in Deckung 🕮 geblieben sind. Da sowohl die Punktmenge A‚B‚C‚D als auch die A1‚B1‚C1‚D1 als starr nachgewiesen sind (Versuch 1), so hat man sich dies Verhalten so vorzustellen, daß der Eisenkörper zunächst so auf die Fläche f gesetzt worden ist, daß die vier Punktpaare zur Deckung kamen, und dann (in Bezug auf die als ruhend gedachte Fläche f) sich um die Achse AB gedreht hat, sodaß C nicht mehr C1 berührte. Da hierbei aber D mit D1 in Deckung blieb, so liegen A‚B‚D auf einer Geraden, und ebenso auch A1‚B1‚D1. Ich habe in der Abhandlung absichtlich mich nicht so ausgedrückt: „jetzt drehen wir den Eisenkörper um AB als Achse“; denn dann würde der Einwurf berechtigt gewesen sein: „woran ist denn diese Bewegung zu erkennen, da doch gesagt worden ist, daß nur Koinzidenzen feststellbar seien?“. Mit Hinsicht auf diesen Drehversuch habe ich auch gerade diese Anordnung der Punkte wähle müssen, ohne sie aber explizite (d. h. in andrer Form als durch bloße Angabe von Koinzidenzen) angeben zu dürfen.

In 4) wird das Eisenstück mit A auf A1 gesetzt und dann so herumbewegt, daß B immer f berührt. Es zeigt sich, daß dabei auch D immer f berührt. Daraus, daß dieser Versuch an jeder beliebigen Stelle von f das gleiche Ergebnis hat (Versuch 5), folgt, daß f eine Ebene ist. Denn A‚B‚D liegen ja (wie durch 3 nachgewiesen) auf einer Geraden; und es gibt keine andre Fläche als die Ebene, die für drei solche Punkte dies Verhalten zeigen würde.

Nun werden weiterhin die Krümmungsmaße für die verschiedenen Punkte dieser Ebene festgestellt. Mancher Physiker wird meinen, die müßten sich nun überall als Null herausstellen. Aber gerade 🕮 Ihnen wird von vornherein klar sein, daß wir nur dann überall das Krümmungsmaß Null finden, also eine euklidische Ebene vor uns haben, wenn wir einen ganz bestimmten Maßkörper genommen haben, nämlich den nach Wahl der euklidischen Geometrie durch Exhaustion hergestellten. Hier aber haben wir ja einen ganz beliebigen Maßnorm-Körper genommen; und da wird offenbar die zu ihm gehörige Ebene i. A. eine nicht-euklidische sein. Das beschriebene Verfahren ist vermutlich leichter anschaulich vorstellbar (S. 43-45), vgl. dazu untenstehende Figur 3. Auch hierbei werden wieder nur Koinzidenzen festgestellt. Es ist dabei leicht zu bemerken, daß keine Lehrsätze der euklidischen Geometrie benutzt werden, was natürlich einen Zirkel- bezw. Trugschluß ergeben würde.

Ich hoffe, daß ich hiermit das Gemeinte genügend verdeutlicht habe. Wie ich mir jetzt, durch Ihre Nachfrage angeregt, überlegt habe, hätte ich doch wohl gut daran getan, wenigstens am Schluß der Versuche oder in einer Anmerkung eine Andeutung zur Unterstützung der Anschauung des Lesers zu geben. Für die Zukunft entnehme ich mir daraus die Lehre, daß nicht nur der Gesichtspunkt der logischen Strenge, sondern auch der pädagogische berücksichtigt werden muß.

Daß in Ihrer BroschüreB auch die Gegensätze zwischen unsern Auffassungen zum Ausdruck kommen werden, ist selbstverständlich. Das liegt ja gerade im Interesse der Sache und wird die Klärung des Problems selbst sicher fördern. Vielleicht gelangen wir durch die Polemik hindurch doch in einigen weiteren Punkten als den bisher schon übereinstimmendenaHsl. einmal zu einer Einigung. Es freute mich auch, daß Sie glauben, jetzt nach ausführlicherer Kenntnis meiner Auffassung eine Diskussion fruchtbarer gestalten zu können. Vielleicht ergibt sich einmal wieder eine Gelegenheit dazu, die ich dann gern ergreifen würde. Inzwischen verbleibe ich

Ihr ganz ergebener
Rudolf Carnap

Brief, msl. Dsl., Seitenanzahl?; 3 Figuren auf 2 Blättern bei RC-028-12-03, bei HD nur Fig. 2 und 3RC 028-12-03; Briefkopf: msl. Rudolf Carnap  /  Buchenbach-Baden  /  3. Dez. 1921  /  Herrn Prof. Dr. Dingler.


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