\brief{Rudolf Carnap an Hugo Dingler, 29. Juli 1921}{Juli 1921} %den 29. Juli 1921. \anrede{Sehr verehrter Herr Professor!} \haupttext{Da ich die Rezension\IC{\rjrezensionfuerdingler} umgehend an die Zeitung\II{\mnn} geschickt habe (am 16.\,VII.), so hoffe ich, daß sie so frühzeitig, wie Sie wünschten, gedruckt werden kann; doch habe ich bisher noch keine Antwort von der Zeitung\II{\mnn} erhalten. Ich bin jetzt dabei, anstelle meines Briefes vom 19.\,V. einen andern zu schreiben, der sich besser für die Veröffentlichung eignet. Er wird ausführlicher als jener, stellt auch die gemeinsame Grundlage unsrer Standpunkte deutlicher dar und verwertet vor allem schon das mit, was mir in unsern Münchener Gesprächen klar geworden oder durch diese angeregt worden ist. Dabei bin ich aber auf einen Punkt gestoßen, der mir Schwierigkeiten macht. Das ist der Anlaß meines heutigen Schreibens. Vielleicht glückt es Ihnen, durch einige kurze Bemerkungen mir aus der Schwierigkeit zu helfen. Mir sind nämlich \uline{Bedenken} gegen einen Punkt der reinen Synthese gekommen, nämlich \uline{gegen die Aufstellung eines Anziehungsgesetzes als einzigen Wirkungsgesetzes.} Es scheint mir, (ohne daß ich das schon fest behaupten könnte), als müsse man entweder dem Newtonschen\IN{\newton} Gesetz noch ein andres Axiom hinzufügen (darüber weiter unten) oder etwa eine ,,polare Konstitutionshypothese`` wählen (,,Phys[ik] u. Hyp[othese]``\IW{} 108) mit zwei Arten von Elementen, die sich teils anziehen, teils abstoßen; oder vielleicht auch bloße \neueseite{} Abstoßung mit nur einer Art von Elementen. Im letzteren Falle müßte (wie bei den Elektronen) das Sich-Entfernen durch die statische Abstoßung, die Annäherung durch die Anziehung zweier parallel bewegter Elemente erklärt werden, und der elastische Gleichgewichtszustand als Gleichgewicht dieser beiden Wirkungen. Mein Bedenken gründet sich auf folgenden Gedankengang. Es ist zwar (und das ist allerdings grundsätzlich die Hauptsache) sicher möglich, ,,die vorgegebenen Bewegungen einer endlichen Zahl von Körpern nach dem Newtonschen Gesetz zu erklären`` (Phys[ik] u. Hyp[othese]\IW{} 106). Dazu ist aber nötig, unsichtbare Massen, die entstehen und verschwinden, anzusetzen. Wollen wir nämlich eine Konst.-Hyp.\blockade{Ergänzung?} mit Korpuskeln konstanter Masse aufstellen, so könnte man etwa auf folgende Weise versuchen, eine gegenseitige Abstoßung solcher Teilchen (z.\,B. um die Ausdehnung eines zusammengedrückten elastischen Körpers zu erklären) trotz der Geltung der Newtonschen Anziehung so darzustellen, daß die Teilchen 1. Stufe rotieren, während in den weiten Zwischenräumen zwischen diesen sehr viele bedeutend kleinere Teilchen zweiter Stufe sich umherbewegen. Jedes Teilchen erster Stufe schleudert durch seine Rotation alle in seine Berührung kommenden Teilchen zweiter Stufe von sich und bewirkt so in seiner Umgebung ein scheinbares Abstoßungsfeld für die andern seinesgleichen. Aber damit ist doch nichts gewonnen, denn durch das Bestehen großer und kleiner Teilchen und die Geltung des Newtonschen Gesetzes allein kann ja das Abschleudern der berührenden T[eilchen] 2. St[ufe] nicht erklärt werden. Das ist ja \neueseite{} wiederum elastische Wirkung. Und zu ihrer Erklärung müßten etwa die T[eilchen] 1. St[ufe] aufgefaßt werden als bestehend aus viel kleineren T[eilchen] 3. St[ufe], die stets nach zwangsweiser Annäherung sich wieder auseinander bewögen. Und da ist dann wieder die gleiche Schwierigkeit. Ohne Abstoßungsfernkräfte (auf irgendeiner Stufe) ist also ein Stoß zwischen Teilchen nicht erklärbar. Es müßte also die Ausdehnung eines zusammengedrückten Körpers anders erklärt werden, als durch Teilchen konstanter Masse. Und da die Teilchen an der Oberfläche sich von den andern \textit{fort} bewegen, so sehe ich keine andre Möglichkeit, als \uline{außerhalb} des zusammengedrückten Körpers (wenn auch vielleicht noch innerhalb seines ursprünglichen Volumens) eine (unsichtbare) Masse anzusetzen, die sich je nach der Zusammendrückung ändert, bei Erwärmung vermehrt usw. Daß die Massen der sichtbaren Körper konstant sind, könnte man wohl aufstellen und durchführen; die Konstant der unsichtbaren Massen hernach aber nicht. Dann aber \uline{muß}, so scheint mir, \uline{außer dem Anziehungsgesetz noch ein andres Axiom aufgestellt werden, das die Veränderung dieser Massen} als Funktion der Lagerung des Systems \uline{angibt.} (Ein zweites, nicht so wichtiges Bedenken erhebt sich bei der Betrachtung einer sich nach allen Seiten gleichmäßig ausdehnenden Kugel, z.\,B. nach elastischer Zusammendrückung oder bei Erwärmung. Diese kann nicht durch außen herumgelagerte Massen von kugelsymmetrischer Verteilung erklärt werden, da deren Potential im Innern konstant, also das Feld Null sein würde. Eine \textit{annähernd} gleichmäßige Ausdehnung der Kugel ließe sich vielleicht mit Hilfe von diskontinuierlichen, \neueseite{} schnell bewegten Massen darstellen). Falls Sie in der Lage sind, mir vor allem das erste Bedenken durch ein paar kurze Bemerkungen zu zerstreuen, so wäre ich für Mitteilung sehr dankbar. Ich werde dann bald in der Lage sein, Ihnen den verabredeten ausführlicheren Brief zuzusenden. Läßt es sich dagegen nicht so ganz einfach lösen, so können wir es ja ausführlicherer Erörterung zu gelegener Zeit vorbehalten, und diesen Punkt einstweilen aus jenem Brief ausschalten. Mit den ergebensten Grüßen bin ich} \grussformel{Ihr\\ Rudolf Carnap} \briefanhang{\textkritik{Soeben habe ich Ihren Brief u. die zahlreichen Schriften bekommen. Haben Sie herzlichen Dank. Da ich einige davon schon besitze, so glaube ich Ihre große Freundlichkeit nicht allzusehr in Anspruch nehmen zu dürfen u. diese zurückschicken zu sollen; nämlich: Grenzen und Ziele; Zum Aufsatze des Herrn Dietrich\ldots{}\IW{}; Die Kultur der Juden.\IW{} Letzteres hatte ich in meiner Liste nur deshalb nicht aufgeführt, weil ich mich auf die Liste zur Theorie d[er] exakten Wiss[enschaften] beschränken wollte. Auch jetzt bleiben ja noch zahlreiche Schriften, für die ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet bin. Dürfte ich auch vielleicht noch um ,,Der starre Körper``\IW{}, Phys. ZS 1920, bitten? Ich habe diese Abhandlung in der Liste irrtümlich genannt, da ich sie schon gelesen habe, besitze sie aber nicht.}\fnA{Hsl.}} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869897}{HD (RC 115-04-10, Dsl. RC 028-12-08)}; Briefkopf: gestempelt \original{Rudolf Carnap \,/\, Buchenbach-Baden}, msl. \original{den 29.\,Juli 1921}.}