Rudolf Carnap an Hugo Dingler, 19. Mai 1921 Mai 1921

Sehr verehrter Herr Professor!

Für die freundliche Übersendung der „Krit[ischen] Bemerkungen“B meinen besten Dank. Daß ich erst jetzt schreibe, bitte ich damit begründen und entschuldigen zu dürfen, daß ich gleichzeitig einige sachliche Bemerkungen hinzufügen möchte, nachdem ich inzwischen auch einige andre Aufsätze von Ihnen gelesen habe („Über den Begriff der Einfachtheit…“B „Ein Grundproblem der modernen Physik“B, „Der starre Körper“B).

Ich möchte besonders auf die beiden Abhandlungen „Grundprobl[eme]“B (als grundsätzliche Erörterung der Hauptfrage) und „Kritische Bem[erkungen]“B (als Anwendung jener grundsätzlichen Auffassung auf die Sonderfrage der Relativitätstheorie) eingehen.

Um bald auf die Darlegung meiner abweichenden Auffassung in bestimmten Punkten übergehen zu können, ohne dabei mißverstanden zu werden, muß ich zuvor deutlich meine Zustimmung zu Ihren wichtigsten Sätzen betonen, und zwar sowohl zu den Ausgangspunkten als auch den Ergebnissen, wie sie in „Grundprobl[eme]“B S. 133 zusammengefasst sind: der Aufbau der Physik kann nicht auf Grund der Experimente allein geschehen, sondern erfordert frei gewählte Festsetzungen; der aufgrund dieser Festsetzungen nach der Exhaustionsmethode aufgeführte Bau kann durch Experimente weder zwingend bewiesen noch widerlegt werden. Dieser Sachverhalt 🕮 muß entschieden bei der Darstellung der physikalischen Gesamtlehre berücksichtigt werden, was heute gewöhnlich noch nicht der Fall ist.

Ich lege den größten Wert auf diese Übereinstimmung meiner Auffassung mit den Grundlagen des von Ihnen Dargelegten; nur diese Übereinstimmung macht es mir wünschenswert, ja überhaupt möglich, weiterhin bestimmte Abweichungen zum Ausdruck zu bringen.

Diese Abweichungen beziehen auf die Folgerungen aus jenen Grundsätzen, genauer: auf den praktischen Ausbau der Fundamentaltheorie. Auch hier stimme ich mit Ihnen darin überein, daß der Maßstab für die Zweckmäßigkeit der Theorie in dieser selbst zu suchen ist und in dem Kriterium der Einfachstheit liegt. Aber auch nach dieser Festsetzung scheint mir der Fortgang noch nicht eindeutig bestimmt; ich sehe hier zwei mögliche Wege: entweder aHsl. lsl. Notiz wir wenden das Kriterium der Einfachstheit auf die ersten, zu Beginn des Aufbaus festzusetzenden Grundannahmen an (die Grundsätze des Raumes, der Zeit, der Abhängigkeitsbeziehung), oder auf den Gesamtbau der verschiedenen Fundamentaltheorien, die sich sich aus der Zusammenwirkung dieser oder jener Festsetzungen einerseits und der Erfahrung andrerseits ergeben.

Wenn ich auch selbst zu der Annahme neige, daß der zweite Weg der richtigere sei, und daß ihn deshalb schließlich auch die Wissenschaft einschlagen werde, wenn einmal das gegenwärtige Stadium der Weglosigkeit oder richtiger der schwankenden, weil 🕮 nicht bewußt gemachten Zielsetzung überwunden sein wird, so möchte ich doch darauf nicht soviel Wert legen, als vielmehr auf die Sachlage überhaupt, daß da zwei verschiedene Wege auch dann noch möglich sind, wenn die genannten Forderungen alle bejaht werden, und daß deshalb die Frage der Entscheidung zwischen diesen beiden Wegen behandelt werden muß. Dies ist gewissermaßen eine Frage zweiter Ordnung, die erst zu entscheiden ist, wenn die wichtige Grundfrage erledigt, jenes Stadium überwunden und die Notwendigkeit eines Weges überhaupt, d. h. der Wahl von Grundfestsetzungen, eingesehen worden ist; und da darf man wohl heute annehmen, daß Ihre schon langdauernden Bemühungen hierum in absehbarer Zeit diese Einsicht zum Allgemein- steht so der Physik gemacht haben werden.

Nun die Frage zweiter Ordnung. Der erste der genannten Wege ist ja die von Ihnen in den „Grundlagen der Physik“B durchgeführte „reine Synthese“. Sein wichtigster Vorzug vor dem zweiten Weg liegt, wenn ich recht sehe, daß die Grundfestsetzungen ein für alle Mal getroffen werden; neue Erfahrungstatsachen, die in der Zukunft bekannt werden, machen höchstens Veränderungen im Oberbau nötig. Wird dagegen der zweite Weg eingeschlagen, so können die Grundfestsetzungen stets nur als einstweilen feststehend gewählt werden, nämlich so, daß sich auf ihrer Grundlage die gesamten gegenwärtig bekannten Erfahrungstatsachen in ein einfacheres Gefüge zusammenschließen lassen, bHsl. lsl. Notiz als aufgrund irgendwelcher andern von den unendlich 🕮 vielen logisch möglichen Festsetzungen.

Bevor demgegenüber etwas zugunsten des zweiten Weges angeführt wird, muß dem Einwand begegnet werden, es handle sich nur scheinbar um zwei verschiedene Wege, beide müßten zu demselben Ziele führen, indem sich aus den einfachsten Grundfestsetzungen stets auch der einfachste Gesamtbau ergebe. Das müßte eine seltsame prästabilierte Harmonie cHsl. lsl. Notiz zwischen der Naturwirklichkeit und jenen Grundfestsetzungen sein, denn denknotwendig ist die Identität der beiden Wege gewiß nicht. Dies wird klar ersichtlich an folgendem Gleichnis (nicht Beispiel, denn ein solches kann immer nur in dem irgendwie gedachten Zustand der gesamten Natur bestehen). Es sei die Aufgabe gestellt, die räumliche Verteilung der Bäume einer Anpflanzung anzugeben. Falls wir gar keine Regelmäßigkeit in der Anordnung der Bäume entdecken, dHsl. lsl. Notiz so müssen wir nach Festlegung eines Koordinatensystems die Koordinaten für jeden einzelnen Baum angeben; zu dem Zwecke werden wir das einfachste System wählen, etwa ein rechtwinkliges, kartesisches. Bemerken wir dagegen, daß je vier benachbarte Bäume die Ecken eines schiefwinkligen Parallelogramms bilden, und diese Par[allelen] alle kongruent sind, so wählen wir nicht jenes einfachste rechtwinklige System, sondern ein geeignet liegendes schiefwinkliges; denn in Bezug auf dieses sind mit wenigen Zahlenangaben die Achsenparallelen, auf deren Schnittpunkten alle Bäume stehen, bezeichnet. Und falls die Bäume auf konzentrischen Kreisen liegen, so wird ihre Anordnung am einfachsten durch Polarkoordinaten beschrieben. Wenn nun nicht völlige Regellosigkeit herrscht, aber auch keine der beiden zuletzt genannten Anordnungen genau erfüllt ist, 🕮 sondern gewiße Bäume annähernd eine konzentrische Kreisschar andeuten, aber gleichzeitig auch zwei sich kreuzende Parallelenscharen durch einen Teil der Bäume annähernd angedeutet sind, so kann es geschehen, daß ein bestimmtes Koordinatensystem gewählt wird und sich auch für einige Zeit bewährt, solange nur die Lage eines kleinen Teils der Bäume und auch diese nur mit geringer Genauigkeit ausgemessen ist, daß aber, wenn die Ausmessung nach Umfang und Genauigkeit Fortschritte gemacht hat, sich herausstellt, daß ein andres als das ursprünglich gewählte System die gesamte Anordnung der Bäume, soweit sie bekannt ist, am einfachsten darzustellen erlaubt. Es ist doch wohl fraglich, ob man recht daran tut, gleich von Anfang an ohne jede Rücksicht auf die wirkliche Verteilung der Bäume das in sich einfachste System (etwa das rechtwinklige) zu wählen und für unabänderlich hinzustellen, nur um späteren Wechsel des Koordinatensystems mit Sicherheit zu vermeiden. Hier bei dem Gleichnis sei schon darauf hingewiesen, daß der Wechsel der Grundfestsetzung auf einer späteren Stufe der Erforschung der Wirklichkeit durch u. nicht etwa die bis dahin geleistete Forschung wertlos macht: alle Messungen bleiben in ihrer Richtigkeit bestehen; sie brauchen nicht von neuem vorgenommen, sondern nur ihre Ergebniszahlen auf das neue System umgerechnet zu werden.

Was nun den zweiten Weg angeht, so scheint mir durch das Gleichnis schon deutlich geworden zu sein, daß die Nachteile der späteren Umänderung der Grundfestsetzungen nicht so schwerwiegend sind, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Auch die bisherige Geschichte der Wissenschaft zeigt ja an vielen Beispielen, daß der Umbau ganzer Theorien (wenn auch nicht vom 🕮 Grundstein, eHsl. lsl. Notiz so doch vom ersten Stockwerk ab) die Ergebnisse der vorher geleisteten Arbeit ihrem Hauptbestande nach nicht verwirft, sondern nur umdeutet; es sei etwa erinnert an das kopernikanische System, an den Übergang von der Emanations- zur Wellentheorie des Lichts, und wiederum von der Theorie des elastischen Lichtmediums zu der des elektromagnetischen Feldes, ferner an die Relativitätstheorie, die nachher noch berührt werden wird.

Und auch den weiteren Gedanken wird das Gleichnis schon nahegelegt haben, daß nämlich der Vorzug der einfacheren Gesamtdarstellung praktisch doch wohl immer den Ausschlag geben dürfte. Und auch wohl mit Recht; denn die Aufgabe der Wissenschaft besteht doch nicht darin, von möglichst einfachen Grundfestsetzungen ausgehend trotzdem nicht weniger als das gesamte Material der Erfahrung irgendwie zur Darstellung zu bringen, sondern die Darstellung der gesamten Erfahrung in einem einheitlichen Gefüge mit möglichst großem Leistungskoeffizienten zu geben, und das heißt doch wohl: in einem solchen Gefüge, für das das Verhältnis der aufzuwendenden Menge von Angaben zu der Menge der damit zur Darstellung gebrachten Tatsachen ein Minimum ist, also ein in seiner Gesamtgestalt möglichst einfaches Gefüge.

Daß die grundsätzliche Entscheidung zwischen den beiden Wegen heute eine dringende Aufgabe für die Physik ist, zeigt sich, wenn wir nunmehr zur Erörterung der Sonderfrage der Relativitätstheorie übergehen. Auch hier wird es genügen, meine Zustimmung zu Ihrer Auffassung der Fragen erster Ordnung nur einfach auszusprechen, um gleich zur Darlegung der Abweichungen in einer Frage zweiter 🕮 Ordnung überzugehen, obwohl mir jene Übereinstimmung, eben weil sie die grundlegenden Dinge betrifft, bedeutend wichtiger ist, als diese Abweichungen. Von erster Ordnung ist hier bei der Anwendung der früher erörterten Grundsätze auf diesen Sonderfall, die sowohl bei den Vertretern als bei den Gegnern der Rel.-Th. anscheinend noch nicht durchgedrungene (jedoch zuweilen andeutungsweise zutage tretende) Einsicht, daß die R.-T. als Fundamentaltheorie ebenso berechtigt ist wie die andern möglichen Fundamentaltheorien, und die experimentellen Ergebnisse nicht im Sinne fHsl. lsl. Notiz ihrer Richtigkeit oder Falschheit entscheiden können. Sondern die Frage der Annahme oder Ablehnung der R.-T. ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, genauer: der Einfachheit, und setzt damit die Beantwortung jener Frage zweiter Ordnung voraus: ist die Forderung möglichster Einfachheit gHsl. Hauptfrage auf die Ausgangspunkte oder das Ziel der Darstellung des Wissenschaftsgebäudes zu beziehen? Die Beantwortung dieser Frage im ersteren Sinne würde die unbedingte Beibehaltung der euklidischen Geometrie (und der Invarianz des Zeitmaßes) und damit die Ablehnung der R.-T. mit sich bringen; das ist, wenn ich recht sehe, Ihre Stellungnahme zur R.-T. in den „Grundlagen der Physik“B und „Krit[ische] Bem[erkungen]“B. Die R.-T. dagegen trifft nicht jene einfachsten Grundfestsetzungen, erhebt dafür aber den Anspruch, das einfachste Gesamtgefüge zu sein, d. h. die die Gesamtheit der physikalischen Vorgänge bestimmenden Naturgesetze durch einfachere Differentialgleichungen darstellen zu können, als irgendeine andre bisher bekannte Theorie. Wir wollen hier diesen Anspruch als berechtigt voraussetzen (nicht im Sinne einer dogmatischen Behauptung, 🕮 sondern um seine Begründung der Physik als Einzelwissenschaft zu überlassen, während wir es hier mit den grundsätzlichen Fragen der Wissenschafts- oder Methodenlehre zu tun haben). Dann bedeutet die Entscheidung der Frage im zweiten Sinne die Annahme der R.-T. Aus dem früher bei der allgemeinen Erörterung zugunsten des zweiten Weges Gesagten geht hervor, daß mir das Verfahren der R.-T. (ihre Einfachstheit immer vorausgesetzt) das grundsätzlich Reichtigere zu sein scheint.

Falls Sie nun Zeit und Neigung haben, auf meine Darlegungen zu erwidern, so wäre mir eine Antwort von Ihnen auf folgende Fragen sehr wertvoll:

1) zur allgemeinen Untersuchung: kommen außer den genannten Gründen zugunsten des ersten Weges (möglichst einfache Grundfestsetzungen) noch andre in Betracht, die Sie veranlassen, ihn zu wählen; und was ist gegen die für den zweiten Weg (mögl[ichst] einf[ache] Gesamtdarstellung) angeführten Gründe einzuwenden? Oder führen etwa doch beide zum gleichen Ziel?

2) zur Sonderbetrachtung über die R.-T.; Anwendung der ersten Frage hierauf: ist die R.-T. auch abzulehnen, wenn vorausgesetzt wird, daß ihr Anspruch berechtigt ist, den einfachsten Gesamtbau einer Physik (d. h. das einfachste System von Naturgesetzen in Gestalt von Differentialgleichungen) darzustellen?

(Nebenfrage: ist nach Ihrer Ansicht diese Voraussetzung erfüllt? Ist es nach Ihrer Ansicht überhaupt denkbar, daß irgendeinmal eine die euklidische Geometrie aufgebende physikalische Theorie diese Voraussetzung erfüllt?) 🕮

Eine Erörterung der Frage, welche Maßgrundsätze zu wählen sind, damit die nach Einstein im Schwerefeld geltenden Gesetzmäßigkeiten sich entweder in euklidischer Form darstellen lassen, oder aber, wie es in der R.-T. geschieht, in nichteuklidischer Form, kommt als ein Beispiel zum „physischen Raum“ auch vor in meiner Dissertation „Der Raum, Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre“B1922@Der Raum. Ein Beitrag zur Wissenschaftslehre, Berlin, 1922. Ich werde sie nach Ihrem Erscheinen (als Ergänzungsheft der KantstudienIKant-Studien, Zeitschrift) Ihnen zuschicken.

Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich

Ihr ganz ergebener
Rudolf Carnap

Brief, msl., 9 Seiten, HD (RC 115-04-04, Dsl. RC 028-12-10); Briefkopf: gestempelt Dr. Rudolf Carnap  /  Buchenbach – Baden, msl. den 19. Mai 1921, msl. Herrn Professor Dr. Hugo Dingler  /  München.


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