Von mir und meiner Familie brauche ich wohl nur kurz zu berichten, da ich ja im Sommer noch viele von Euch gesehen habe und sich seitdem nicht viel in unserm Schicksal verändert hat.
Wir wohnen nämlich seit Sommer 1919 hier auf dem Lande in der Nähe von Freiburg, im Hause der SchwiegermutterPSchöndube, Luisa, 1869–1957, geb. Kebe Quevedo, verh. mit Heinrich Schöndube, Mutter von Elisabeth Carnap, und zwar seit dem Winter allein, da die Familie wieder nach Mexico gereist ist. Ich habe nämlich am 27. August 1917 Elisabeth SchöndubePCarnap, Elisabeth, 1895–1987, auch Cha oder Chacha, Grafologin, Tochter von Luisa und Heinrich Schöndube, von 1917 bis 1929 verh. mit Rudolf Carnap (auch Chacha genannt) geheiratet, welcher Ehe zwei noch kleine, jedoch zur Freude ihrer Eltern heranwachsende Töchter entsprossen sind: am 31. Okt. 1918 Annemarie HedwigPCarnap, Annemarie Hedwig, 1918–2007, auch Töchterle, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap, am 2. Juni 1920 Hanneliese MargaretePCarnap, Hanneliese, 1920–2016, Tochter von Rudolf und Elisabeth Carnap, von denen bisher nur die erstere die ? gelernt hat, sich selbst und ihre Worte so in Szene zu setzen, wie es die Erwachsenen zu verlangen pflegen.
Nachdem ich zeitweise an Unterrichtstätigkeit an freien Schulen, Volkshochschulen u. dergl. gedacht hatte, mich auch in Jena praktisch darin (VHSIVHS Jena) versucht hatte, habe ich jetzt mein Interesse der reinen Wissenschaft zugewandt und halte sie für mein eigentliches Arbeitsfeld. Mein besonderes Gebiet ist die Philosophie der exakten Wissenschaften, die in den beiden letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen hat und eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat, da im letzten Jahrhundert die nach mathem[atischer] Methode verfahrenden Wiss[enschaften] (Math[ematik], Physik, u. jetzt auch Logik) einen in Anbetracht dieser kurzen Zeit schon sehr weit gediehenen Aufbau begonnen haben, ohne viel Zeit auf die kritische Nachprüfung der Fundamente und Methoden dieses Aufbaus zu verwenden. Nicht ohne Schuld der 🕮 Philosophie, die häufig nicht das Verständnis für die Gesichtspunkte jener sich so rasch entwickelnden Wissenschaften fand, und andrerseits auch nicht ohne Schuld dieser Wiss[enschaften], die mehr auf Eroberung immer neuer Gebiete aus waren als auf Sicherung und sorgfältige Eingliederung des Gewonnenen, kurz: mit beiderseitiger Schuld entstand eine Entfremdung. Oder richtiger: die Schuld lag auf keiner Seite, sondern es geschah, was bei dem Tempo des Vordringens im Bewegungskrieg unvermeidlich ist: die Fühlung zwischen Front und Stab geht verloren. Den Philosophen in der Etappe wurde bei dem Mangel an Meldungen die Sache immer unklarer; es ist besonders zu bedauern, daß KantPKant, Immanuel, 1724–1804, dt. Philosoph zwar noch die Zeit der ersten Forschungen über die grundsätzlich sehr wichtigen nichteuklidischen Geometrien erlebte, aber keine Meldungen mehr darüber erhielt, was sowohl jenen, als auch seinem System sehr förderlich gewesen wäre. An der Front hätte der Mangel an Verbindung noch verhängnisvoller werden können, wenn nicht zum Glück einige Leute vorn gewesen wären, die durch natürlichen Scharfsinn und klaren Blick den Mangel an strategischer Schulung ersetzten: Männern wie GaußPGauß, Carl Friedrich, 1777-1855, dt. Mathematiker und HelmholtzPHelmholtz, Hermann von, 1821-1894, dt. Physiker, ferner RiemannPRiemann, Bernhard, 1826–1866, dt. Mathematiker, HertzPHertz, Heinrich, 1857–1894, dt. Physiker u.v.a., die mit hervorragender Fachbegabung starke systembildende Kraft und sicheren allgemeinwiss[enschaftlichen] Instinkt verbanden, ist es zu danken, daß im Ganzen die richtigen Bahnen eingeschlagen wurden. Auf die Dauer geht das aber doch nicht so weiter. Seit längerem schon in der Geometrie, später auch in der Arithm[etik] und Analysis, und jetzt auch in der Physik zeigt es sich, daß an bestimmten Stellen die Meldungen von vorn gar nicht mehr zur Stabskarte passen. Nachdem man sich eine Zeitlang damit begnügt hat, hinten zu sagen: die wissen wohl selbst nicht recht, wo sie sind! und vorn: was geht uns die veraltete Karte dahinten an! kommt man doch allmählich beiderseits zu der Einsicht, daß 🕮 beide Vorwürfe nicht ganz unberechtigt sind: die ex[akten] Wiss[enschaften] arbeiten häufig mit Begriffen (die zuweilen gerade ihre Hauptbegriffe sind), von denen sie nicht exakt sagen können, was sie bedeuten; und andererseits: die traditionellen Methoden der Philosophie können hier wenig helfen. Und so ist man denn jetzt schon seit einiger Zeit dabei, und an manchen Stellen schon mit sehr erfreulichem Erfolg, eine Gesamtkarte zu entwerfen, die sowohl den Genauigkeitsansprüchen der Topographen und Generalstäbler genügt, als auch alle eroberten Punkte aufzuweisen ist, d. h. ein System der Wissenschaft und vorerst der mathem[atischen] Wissenschaftsgebiete) aufzubauen, das logisch einwandfreie Grundlagen und methodische Begriffsbildung aufweist und dabei imstande ist, alle Einsichten der Fachgebiete zu umfassen und möglichst einfach und einheitlich darzustellen. In der Richtung auf dieses (natürlich im Unenedlichen liegenden) Ideal ist nun in der letzten Zeit von den verschiedenen Seiten aus eifrig gearbeitet worden; ich nenne einige allgemeiner bekannte Namen: von Philosophen NatorpPNatorp, Paul, 1854-1924, dt. Philosoph, HusserlPHusserl, Edmund, 1859–1938, dt. Philosoph, CassirerPCassirer, Ernst, 1874–1945, dt.-am. Philosoph, NelsonPNelson, Leonard, 1882–1927, dt. Philosoph; von Math[ematikern] RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell, CouturatPCouturat, Louis, 1868-1914, fr. Mathematiker, FregePFrege, Gottlob, 1848–1925, dt. Mathematiker und Philosoph, HilbertPHilbert, David, 1862–1943, dt. Mathematiker, KleinPKlein, Felix, 1849-1925, dt. Mathematiker; von Phys[ikern] MachPMach, Ernst, 1838–1916, öst. Physiker und Philosoph, PoincaréPPoincaré, Henri, 1854–1912, fr. Mathematiker und Philosoph, DühringPDühring, Eugen, 1833-1921, dt. Philosoph, OstwaldPOstwald, Wilhelm, 1853-1932, dt.- balt. Chemiker und Philosoph, WeylPWeyl, Hermann, 1885–1955, dt.-am. Mathematiker und Physiker. Nun sind aber bei dieser Zusammenarbeit doch leider Mißverständnisse und teils wirkliche, teils scheinbare Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Gruppen sehr häufig; durch die lange Trennungszeit sind eben auf den beiden Seiten Terminologie (und auch die Begriffe selbst) sehr verschieden entwickelt. Deshalb kann sich hier als Helfer besonders nützlich machen, wer sowohl für Philosophie als auch für die mathem[atischen] Fachwissenschaften Neigung und Verständnis hat.
Mit einer solchen Arbeit aus der „Wissenschaftslehre“B kann ich nun nicht in einer Fachwiss[enschaft] den Doktor bauen, sondern in Philosophie, und das will ich bei BauchPBauch, Bruno, 1877–1942, dt. Philosoph, Prof. in Jena in Jena tun (nachdem ich im vorigen Jahre dort das Oberlehrerexamen abgelegt habe). 🕮
Daß ich viel in Physik experimentell gearbeitet habe, sehe ich nicht als verlorene Zeit an. Im Gegenteil, wie jeder Generalstäbler einmal Frontdienst getan haben sollte, so muß auch, glaube ich, der in der Wissenschaftslehre arbeiten will, in irgendeiner Fachwissenschaft wenigstens soviel gearbeitet haben, daß er nicht nur ihre Ergebnisse, sondern auch ihre Methoden richtig kennt. –
Nun sind noch einige Erlebnisse zu berichten. Im Sommer war ich einige Monate in Jena; Pfingsten mit FlitnerPFlitner, Wilhelm, 1889–1990, dt. Pädagoge, heiratete 1917 Elisabeth Flitner, Mitglied der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises, Mitbegründer der Volkshochschule in Jena, RäubersPRäuber, Erwin, 1879-1952, genannt Räuberdoktor, Gymnasiallehrer in Naumburg, Verbindung zum Serakreis, WV, verh. mit Hedwig RäuberPRäuber, Hedwig, geb. Stortz, verh. mit Erwin Räuber und Rugard von RohdenPRohden, Rugard von, 1894–1971, Studienrat, Sohn von Christine von Rohden, Vetter von Rudolf Carnap, Mitglied der AV Marburg bei BaussnernsPBaußnern, Friedrich von, 1891-1964, Fritz genannt, dt. Pfarrer, stud. in Marburg Theologie, WV, Mitglied des Serakreises und der AV Jena, Sohn von Waldemar von Baußnern (1866-1931, dt. Musikpädagoge), Bruder von Walther von Baußnern und Lotte Frankenberger im Pfiffelbacher Pfarrhaus. Bei unsern Gesprächen über Christentum und Kirche wurde mir meine Skepsis über das, was von der Kirche Segensreiches für unsre Zeit zu erwarten sei, zu solcher Klarheit, daß ich ihr den Rücken wandte.
Dann kam die Thüringer VHS-Woche auf der Wartburg. Ja, da konnte man verheißungsvollere Keime eines Neuen bemerken. FränzelsPFränzel, Walter, 1889–1968, dt. Lehrer, stud. Deutsch, Englisch und Geschichte in Rostock, Jena, Leipzig und Berlin, Mitglied der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises, 1919 Geschäftsführer der Volkshochschule in Jena, heiratete 1920 Elise Fränzel Optimismus behielt recht gegenüber unsrer Skepsis, „was man wohl mit einem so neu zusammengewürfelten Kreise in den paar Tagen zustande bringen werde“. Ihr lest ja die beiliegenden WartburgberichteB. Aus diesem Eindruck heraus werdet Ihr, die Ihr nicht auf den Hohen Leeden wart, verstehen, warum unsre Sonnwende, die, wie Ihr wohl gehört habt, so gar kein „Serafest“ gewesen ist, uns nicht so schmerzlich enttäuscht hat, wie im vorigen Jahr. Es wurde hier ein weitere Kreise durchdringender Geist deutlich, der vielleicht künftig gute Volksfeste wird gestalten können; und nicht nur das.
August und September hatten wir eine schöne Zeit mit FlitnersPFlitner, Elisabeth, 1894–1988, geb. Czapski, Lisi genannt, dt. Nationalökonomin, heiratete 1917 Wilhelm FlitnerPFlitner, Wilhelm, 1889–1990, dt. Pädagoge, heiratete 1917 Elisabeth Flitner, Mitglied der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises, Mitbegründer der Volkshochschule in Jena zusammen, die hier bei uns waren. Im August haben wir eine Woche Wissenschaftslehre zusammen getrieben. Da wohnten nämlich noch FranzPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh und HildePRoh, Hildegard (Hilde), 1890–1945, geb. Heintze, Krankengymnastin, verh. mit Franz Roh Roh und FreyerPFreyer, Hans, 1887–1969, dt. Soziologe, verh. mit Käthe Freyer, Mitglied des Serakreises hier im Dorfe. Wir besprachen da die oben genannten Dinge: das System der Wissenschaften, insbesondere die Zusammenhänge zwischen Logik, Mathematik, Phy🕮sik, Psychologie. Diese Besprechungen waren besonders für mich sehr fördernd, teils klärend, teils durch unbehobene Unklarheiten anregend; kein Wunder, da ich egoistischerweise mein Hauptinteressengebiet als Thema vorgeschlagen hatte.
Überhaupt ist dieser stille Schwarzwaldwinkel nicht so seragottverlassen, wie man vielleicht denkt. Eines Tages traf ich mit FlitnerPFlitner, Wilhelm, 1889–1990, dt. Pädagoge, heiratete 1917 Elisabeth Flitner, Mitglied der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises, Mitbegründer der Volkshochschule in Jena draußen auf der Straße den RäuberdoktorPRäuber, Erwin, 1879-1952, genannt Räuberdoktor, Gymnasiallehrer in Naumburg, Verbindung zum Serakreis, WV, verh. mit Hedwig Räuber, der uns suchte. Den großen FrankenbergerPFrankenberger, Julius, 1888–1943, dt. Pädagoge, verh. mit Lotte Frankenberger, Schüler von Herman Nohl, Mitglied der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises sah ich mal, wenn auch nur einen Abend, im Nachbarhaus. Im Nachbarhaus auf der andern Seite wohnt Margret ArendsPArends, Margret, †1941, auch Mat, Naumburger WV, Schneiderin, Mitglied des Serakreises, heiratete Mitte der 1920er-Jahre Julius Wiener, und im Winter wohnte noch Hanne RichterPKüstermann, Hanne, 1899–1998, geb. Richter, Buchbinderin, ging 1927 nach Guatemala und heiratete dort Hans Arnold Küstermann bei ihr. –
Zu Trude HoltzesPZeilinger, Gertrud, geb. Holtze, Trude genannt, Musiklehrerin in Wickersdorf Brief: wie recht hat sie doch! Aber ich meine, es ist gar nicht unsre Absicht (d. h. FränzelsPFränzel, Walter, 1889–1968, dt. Lehrer, stud. Deutsch, Englisch und Geschichte in Rostock, Jena, Leipzig und Berlin, Mitglied der Jenaer Freistudentenschaft und des Serakreises, 1919 Geschäftsführer der Volkshochschule in Jena, heiratete 1920 Elise Fränzel und der andern, die diesen Rundbrief planten) daß der weite Kreis der Seraleute durch diesen Brief wieder als Lebenskreis zusammengeführt werden soll. Jeder steht jetzt in seinem Kreise, in den ihn Schicksal oder Wahl geführt hat. Glücklich, die sich wieder zu mehreren zusammenfinden, womöglich am gleichen Werk. Glücklich aber auch, wer in einem ganz neuen Kreis an so starkem Leben teil haben kann, wie Trude H[oltze]PZeilinger, Gertrud, geb. Holtze, Trude genannt, Musiklehrerin in Wickersdorf es in Wickersdorf gefunden hat. Gerade ihr bin ich für ihren Brief dankbar und möchte sie bitten, auch weiter zum Rundbrief beizutragen. Wie fruchtbar kann er gerade dadurch werden, daß nicht nur die ohnehin noch zusammenlebenden sich hier finden, sondern daß jeder Weitentfernte und doch von früher uns Befreundete aus seinem Lebenskreise und den Kräften, die ihn irgendwo berührt oder erfaßt haben, berichtet! Wohin zielt und was treibt man eigentlich jetzt in deiner Wissenschaft (wofern dir diese hauptsächlich am Herzen liegt), an deiner Schule, in deiner Kirche, Sekte, Loge, Bund, Verein, Siedlung? Ja, wirklich von all diesem wollen wir hören, falls da kräftiges Leben drin steckt und du innerlich beteiligt bist.